2. Kapitel: 29.10.1968, Eutin

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Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum ersten Mal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde Vietnamgefühl (dabei zu sein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen. [...] So sehr wir den Schmerz der Hinterbliebenen in Brüssel mitempfinden: wir, die wir dem Neuen aufgeschlossen sind, können, solange das rechte Maß nicht überschritten wird, dem Kühnen und Unkonventionellen, das, bei aller menschlichen Tragik im Brüsseler Kaufhausbrand steckt, unsere Bewunderung nicht versagen. [...]

Flugblatt Nr. 7 Kommune I (24.5.1967)

Wenn es irgendwo brennt in der nächsten Zeit, wenn irgendwo eine Kaserne in die Luft geht, wenn irgendwo in einem Stadion die Tribüne einstürzt, seid bitte nicht überrascht. Genauso wenig wie beim Überschreiten der Demarkationslinie durch die Amis, der Bombardierung des Stadtzentrums von Hanoi, dem Einmarsch der Marines nach China. Brüssel hat uns die einzige Antwort darauf gegeben: Burn, warehouse, burn!

Flugblatt Nr. 8 Kommune I (24.5.1967)

29. 10. 1968, Eutin 


„Danke, Schwesterherz!" Kaum, dass die Tür ins Schloss gefallen war, ließ sich Ingrid auf den altmodischen Esszimmerstuhl aus Eichenholz sinken, der so laut knarrte, dass er die folgenden Worte ihrer Schwester übertönte.

Maria schüttelte mit einem Lächeln den Kopf. Was ihre Innenausstattung betraf, war ihre Mutter furchtbar altmodisch. Mit Erfolg hatte sie bisher die neuen, modernen Plastikmöbel aus ihrem Esszimmer ferngehalten.

„Was hast du gesagt?", hakte sie also nach.

„Dass ich es nicht ausgehalten hätte. Ein Spaziergang! Also wirklich. Es reicht, das ich mit der alten Dame an Weihnachten einen ganzen Tag verbringen muss. Deine Ausrede war wirklich wunderbar", erklärte ihre Schwester.

„Aber es war doch keine Ausrede!" Maria ließ ihr Mathematikbuch zuklappen und griff in ihre Schultasche.

„Ich brauche wirklich Hilfe und als Dank für den ersparten Spaziergang darfst du mir ruhig helfen."

Bei ihrem Stiefvater und vermutlich auch ihrer Mutter hätte Ingrid widersprochen, doch nun beließ sie es bei einem Augenverdrehen.

Maria schlug Ordner und Schulbuch auf, bevor sie auf eine Seite deutete.

„Hier. Erläutern Sie die Errungenschaften der französischen Revolution, auf die der Abgeordnete eingeht in ihrem unmittelbaren historischen Kontext und erklären Sie, in wieweit seine Befürchtungen sich im weiteren Verlauf verwirklichen"

Wenn zuvor noch ein letzter Rest von Lustlosigkeit auf dem Gesicht ihrer Schwester zu erkennen gewesen war, so verschwand dieser jetzt endgültig, denn teilten sie beide die gemeinsame Geschichtsleidenschaft.

Sie zog ihren Stuhl näher heran und beugte sich über das Buch.

„Die erste Aufgabe habe ich schon fertig, doch gibt es einige unklare Stellen für die zweite."

„Juli 1791. Das war nach dem Fluchtversuch Ludwig XVI und vor der Verabschiedung der Septemberverfassung durch die verfassungsgebende Nationalversammlung", stellte Ingrid fest, bevor sie sich in der Rede vertiefte „Er scheint Royalist zu sein. Als eine Befürchtung kannst du die Abschaffung der Monarchie aufschreiben. Das war am einundzw..."

„...anzigsten September 1792", vollendete Maria, während sie das Datum zu ihren Notizen schrieb.

„Richtig. Die Hinrichtung des Königs kannst du auch noch erwähnen."

„Gut." Sie nickte und ein Schauer fuhr ihr über den Rücken. „Und es stimmt, dass es durch die Hinrichtung des Königs zu weiteren Ermordungen und Aufständen kam." Für einen Moment hielt sie inne. „Die Jakobinerherrschaft muss schrecklich gewesen sein."

Wir werden immer zusammen gehenWhere stories live. Discover now