13. Colin und Billy

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„Es riecht so gut nach Sommer." Harry blieb am unteren Treppenabsatz stehen und schloss die Augen. Auch Louis schnupperte, in der Hoffnung, Blüten und die Wärme des kommenden Tages zu riechen, doch tatsächlich waren es eher Abgase und die feuchte Abdeckplane, mit der ein Nachbar sein Auto vor der Sonneneinstrahlung schützen wollte.

Aber Harry hatte vor wenigen Tagen noch am Strand gelegen und die Gerüche dort waren sicherlich weitaus unangenehmer gewesen, als das hier.

„Willst du ein bisschen gehen?", fragte Louis und nickte die gepflasterte Straße hinauf, deren Steine das Sonnenlicht reflektierten.

„Ein bisschen vielleicht", sagte Harry vorsichtig und lies das Treppengeländer los. Seine Schritte waren noch schwer und er musste viel Kraft aufwenden, um überhaupt vorwärts zu kommen, das war deutlich zu spüren. Louis ging hinter ihm her, wie ein Vater dessen Kind die ersten Schritte machte. Er hatte den Arm ausgestreckt, bereit, zuzupacken, sollte Harry ins Straucheln geraten.

Doch der Soldat kam gut voran, auch wenn er bei jedem zweiten Schritt umzufallen drohte, wurde es immer besser und die Abstände, in denen er strauchelte, wurden länger.

„Wo willst du denn eigentlich hin?", fragte Louis. Die halbe Straße hatten sie schon hinter sich.

„Nur bis da vorne, wo die Sonne auf das Mäuerchen scheint", sagte Harry und deutete auf die kleine Steinmauer. Ein einzelner Sonnenstrahl hatte sich über die Hausdächer geschoben und wärmte die roten Steine langsam auf. Vorsichtig streckte Harry die Hand aus, bis sie hell erleuchtet war. Er drehte sie im Licht und lächelte sanft. Dann sagte er leise: „Am Strand war es nie so sonnig. Meist hat das Meer ganz schlimm geschäumt und die Gischt hing in der Luft fest. Allerdings wären wir in der Sonne vermutlich alle irgendwann an einem Hitzschlag gestorben..." Er ebbte ab, schloss die Augen.

Die Erinnerung an diesen Strand ließ ihn erschauern und Louis sah ihm an, dass er Angst hatte vor den Gedanken, die sein Kopf gerade zu bilden schien.

Vorsichtig trat er neben ihn.

Seine Schuhe machten dabei ein kratzendes Geräusch auf dem Boden.

„Harry...", fing er an, ohne so genau zu wissen, was er eigentlich sagen wollte. Er konnte ihn nicht trösten, denn er wusste nicht wie und hatte die Erfahrung, die Harry gemacht hatte, nie machen müssen.

Obwohl Harry viel jünger war als er, war er diesbezüglich doch wesentlich reifer.

„Louis, was, wenn ich zurückkehren kann und wieder an diesem Strand auftauche?", sagte Harry schnell, als wären die Worte weniger unheimlich, wenn er sie zügig über die Lippen brachte.

„Wie kommst du darauf? Ich denke, du wirst wieder im Flugzeug rauskommen, dort wo du verschwunden bist...hoffe ich zumindest."

„Und wenn nicht? Was, wenn ich zwei Tage zurückreise und wieder diese Granate einschlägt? Soll ich mich dann noch näher an sie heranbewegen, in der Hoffnung, schwerer verletzt oder tot zu sein, damit die ganze Scheiße endlich vorbei ist?"

„Du willst dich umbringen?"

„Keine Ahnung. Aber du müsstest diesen Strand mal sehen. Er ist lang und trostlos. Man steht den ganzen Tag in Reihen und starrt auf die See, wartet, dass ein Boot am Horizont auftaucht. Man hofft und bangt, dass es den Weg zu uns schafft, ohne bombardiert zu werden, dass es Männer aufnehmen kann und ohne Schaden zurückfährt." Harry setzte sich vorsichtig auf die Mauer und vergrub das Gesicht in den Händen. „Es gab Tage, da kam gerade mal ein Schiff und die Deutschen haben seelenruhig dabei zugesehen, wie wir hunderte Männer eingeladen haben, nur um es dann zu versenken, sobald es ausgelaufen war. Vor meinen Augen wurden meine Kameraden ermordet und man kann nichts tun, außer brav in seiner Reihe stehen zu bleiben, um hoffentlich im nächsten Schiff zu landen...von dem man auch nicht weiß, ob es wirklich zurück nach England kommt."

Airspeed OxfordWhere stories live. Discover now