(2) Niemand urteilt

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Poppy

Ein schweres Klopfen an der Tür sorgte dafür, dass Poppy wach wurde. Sie klappte ein Auge auf und nahm ihre Umgebung wahr. Als sie merkte, dass sie noch immer ihrem Apartment über der Garage war, füllten sich ihre Augen erneut mit Tränen.

Ihr Vater hatte es umgehend fertiggestellt, als sie heraus gefunden hatten, dass ihre Mutter erneut schwanger war. Nie hatte Poppy damit gerechnet, nach dem Eintritt in die Highschool noch eine große Schwester zu werden. Aber da waren sie, wenige Tage nach Beginn der Sommerferien: eine vierköpfige Familie.

Ab dem Moment, in dem Rose geboren wurde, hatte Poppy ein eigenes Reich. Einen Rückzugsort, an den sie vor Rosies nächtelangem Weinen fliehen konnte. In den Monaten zuvor hatte Poppys Mutter wieder und wieder betont, wie wichtig es wäre, dass sie, Poppy, sich vernünftig ausruhen konnte, damit sie den Kursen im letzten Schuljahr ihre volle Aufmerksamkeit schenken könne.

Die Gedanken an ihre liebevolle Familie brachten das ihr inzwischen bekannte Stechen im Hals hervor.
"Poppy, lass mich rein", rief eine weibliche Stimme. Poppy kannte die Stimme sofort.

Sie gehörte Abbi, ihrer besten Freundin seit Kindertagen.
"Moment." Poppy räusperte sich und sprang aus dem Bett. Es war ihr egal, dass sie nur ein Nachthemd trug und ihr Haar völlig zerzaust war. Da ihr in der ganzen letzten Woche seit ihrer Heimkehr aus dem Krankenhaus nicht nach Aufstehen zumute war, war das Fertigmachen die Mühe ohnehin nicht wert gewesen.

"Beeil dich, Poppy. Wir müssen-"
Sie verstummte als Poppy die Tür aufriss.

"Ohje, Poppy. Schau dich nur an." Sie machte einen Schritt vorwärts und zog Poppy in eine herzliche Umarmung. "Ich hätte dich nicht allein hier lassen sollen."

"Mir geht's gut, Abbi, wirklich." Poppy trat einen Schritt zurück.

"Augenscheinlich nicht. Aber ich bin nicht hier um darüber zu urteilen. Ich dachte nur, du brauchst vielleicht Hilfe beim Fertigmachen. Mental."

"Fertigmachen?", fragte Poppy misstrauisch. Wozu? Sie wollte die Gefühle ihrer Freundin nicht verletzen, aber sie würde heute bestimmt nirgendwo hingehen.

Abbi sah sie verwirrt an.

"Heute..." Sie brach den Augenkontakt und räusperte sich. "Wir verabschieden uns heute. Erinnerst du dich?"

Verabschieden? Da fiel es Poppy siedend heiß ein. "Die Beerdigung?", fragte sie mit schwacher Stimme.

Abbi nickte und griff nach ihrer Hand. Nach einem ermunternden Druck, schob sie ihre beste Freundin in das kleine Bad am Ende des Apartments.

"Geh duschen. Ich habe ein paar Klamotten für dich mitgebracht, weil...du weißt schon..."

Poppy zwang sich zu einem Lächeln und flüsterte einen Dank. Ohne Abbi hätte sie die Beerdigung ihrer Eltern verpasst und selbst wenn nicht, hätte sie keine angemessenen Klamotten gehabt. Was auch immer für die Beerdigung einer ganzen Familie angemessen war. Nur... Poppy Augen weiteten sich. Es handelte sich nicht um ihre ganze Familie. Sie hatte immer noch die kleine Rosie.

Während Poppy sich ihrer Kleider entledigte, fragte sie sich, wer sich um das Baby kümmerte. Als sie eine Plastetüte um ihren Verband am linken Arm gestülpt und befestigt hatte, trat sie unter die Dusche. Das warme Wasser tat gut. Nachdem sie ihr Haar gewaschen und ihre Haut geschrubbt hatte, bis sie brannte, stellte sie es ab. Wie konnte sie Rosie vergessen haben? Sie machte sich im Stillen schreckliche Vorwürfe.

"Abbi?"

Es dauerte nur einen kurzen Moment bis sie ins Bad kam und Poppy ein riesiges Handtuch hin hielt. "Ja?"

Poppy nahm das Handtuch und wickelte es um ihren Körper. Vor Verlegenheit konzentrierte sie sich auf den Plastikschutz, dessen Verschluss sie nun zu lösen versuchte.

Sie hatte keine Ahnung wie sie die Frage am besten stellen sollte. Es würde vermutlich keinen guten Eindruck hinterlassen, dass sie nicht mal die Kraft hatte aufbringen können, sich über Rosies Verbleib zu informieren. Sie war wohl offiziell die schlechteste Schwester der Welt.

Doch während Abbi sie in die Küche scheuchte nahm sie sich vor, ihr Leben wieder auf die Reihe zu kriegen und Rosie mit allem zu versorgen, was das kleine Mädchen jemals wollen und brauchen würde. Allem voran ein liebevolles Zuhause, genau wie das ihrer Eltern.

"Weißt du zufällig, wer sich um Rosie gekümmert hat?"

Abbi griff nach einem Kamm und begann langsam alle Knoten heraus zu lösen.

"Du wirst die Antwort hassen", seufzte sie. "Aber sie ist bei den Lawsons."

Poppy's Augen weiteten sich in Schock. "Die Lawsons? Wie in Levi Lawson und seine Familie?"

Ihre Freundin seufzte erneut. "Ja. Levi Lawson und seine Familie. Mr. Lawson ist derzeit ihr Vormund. Sie haben Rosie abgeholt als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Seitdem lebt sie bei ihnen."

Verdammt. Das war schlecht. Poppy hasste Levi seitdem sie denken konnte. Er war ein verwöhnter Schnösel, der sich um keine Menschenseele, außer seiner eigenen, scherte. Nie hatte sie verstanden, wie ihre Eltern sich hatten anfreunden können und warum sie ausgerechnet Mr. und Mrs. Lawson als Taufpaten für Rosie ausgewählt hatten. Poppy musste dringend mit ihnen reden und einen Weg finden, Rosie wieder zu bekommen. Das kleine Mädchen gehörte zu ihr. Zu niemandem sonst.

"Zeig mir deinen Arm." Abbis Stimme holte Poppy aus ihren Gedanken. "Sieht aus, als hättest du deinen letzten Arzttermin verpasst. Das können wir jetzt auch nicht mehr ändern, aber ich kann versuchen, wenigstens die äußerste Schicht des Verbandes einigermaßen glatt zu ziehen."

Married to a firefly - German Edition •abgeschlossen•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt