Zweiunddreißig Stunden

983 3 5
                                    

Ich rutsche an meiner Zimmertür entlang nach unten. Zittere, weil mir die Galle langsam hoch kriecht. Wieso hast Du ihn bloß nur mitgebracht, Mutter? 

Er hat mich angefasst. Damals in seinem Büro, als wir alleine waren. Mit dem Vorwand, er käme mit irgendeiner Sache im Internet nicht zurecht, lockte er mich zu sich. Ich kam zu ihm. Wollte helfen, da ich mich auskannte. Er hat es gnadenlos ausgenutzt. Sah in mir nur eins von diesen jungen Dingern, die keinen richtigen Mann abbekommen haben, als seine Finger gierig nach meiner Brust grabschten. 

Mein Blick ist von Tränen durchnässt und fällt auf den Laptop. Er gibt ein piependes Geräusch von sich, da mehrere Nachrichten gleichzeitig eingetroffen sind. Die meisten möchte ich erstmal nicht beantworten, doch dann denke ich an sie. Die Frau, die jetzt irgendwo in Deutschland sitzt und auf meine Antwort wartet. 

Ich hadere mit mir. Bisher habe ich niemandem wirklich anvertraut, was bei mir zu Hause vor sich geht. Irgendwann bekam auch ich das meiste nicht mehr richtig mit.  War oft bis zum Abend spazieren, oder ging anderen Aktivitäten mit voller Elan nach. Ich sah meine Mutter kaum noch. Wenn, dann meistens im tiefen Schlaf. 

Zittern begleitet mich, als ich mich auf meinen Schreibtischstuhl plumpsen lasse.  Mein innerer Akku ist beinahe bei null Prozent angelangt. Ich bin völlig ausgelaugt. Nehme dennoch lautes Stöhnen wahr. Das dieser Mann mit meiner Mutter schläft war vorherzusehen. Sie ist zwar kein Männermagnet, aber doch noch recht attraktiv für ihr Alter. Hat schönes, kraftvolles Haar, welches sie meistens als Lockenfrisur trägt. Ihre Augen scheinen auch sehr hypnotisierend auf das andere Geschlecht zu wirken, denn sonst wäre dieses nicht hier. 

Ich tue meinen Ohren einen großen Gefallen, indem ich sie mit Kopfhörern von der Außenwelt abschotte. Dieses Gestöhne erträgt doch kein Mensch. Meine Zähne knirschen leicht, als ich auf YouTube nach der passenden Musik für meine Stimmung suche. 

Mother Earth von Within Temptation klingt für den Anfang gar nicht mal so schlecht. Ich verliere mich in den Lyrics. Schaue der Schneeeule zu, wie sie durch das Video fliegt. Schon allein wegen ihr liebe ich dieses Video abgöttisch. 

Ihr Nachrichtenfenster ist das nächste, das ich öffne. Lese mir erstmal durch, was sie geschrieben hat. Höre ihre Besorgnis aus jedem einzelnen Wort heraus, welches nun auf meinem Bildschirm angezeigt wird. 

Meine Finger liegen schon auf der Tastatur, doch mir fehlen die passenden Worte. Die Playlist, welche ich mal vor Jahren zusammengestellt habe, wechselt das Lied. Sie landet bei einem, welches ich überspringe. In meinem jetzigen Zustand kann ich My Lonely Road von Isisip nicht hören. Ich habe nämlich schon genug Tränen vergossen. 

In meinem Inneren schreit alles. Nach Fürsorge und Anmerkung. Viele Menschen, denen ich begegnet bin, meinen, ich sei undankbar. Immerhin habe ich ein Dach über dem Kopf und ausreichend zu essen.  

Dies ist allerdings nur die Oberfläche, welche für die moderne Gesellschaft sichtbar ist. Der Einzelne interessiert nicht. Wird schnell ersetzt, wenn Not am Mann ist. 

Ich atme noch einmal tief durch und dann tippe ich einfach drauf los. Schreibe mir alles von der Seele, was mir einfällt. Schicke es einfach, ohne noch einmal drüber zu schauen, ab. 

Die Wartezeit bringt mich fast um den Verstand. 

Das nächste Pling Geräusch ertönt so laut aus meinen Kopfhörern, sodass ich richtig doll hoch schrecke. Über welches Thema habe ich als letztes nachgedacht? Ich weiß es nicht mehr. 

Meine Augen kleben regelrecht an diesen Buchstaben in schwarzer Schrift.  Vermitteln mir, dass ich nicht alleine bin. Wieso fühle ich mich dann so? 

365 Tage devotWhere stories live. Discover now