6.1 - Ein Seelsorger kommt selten allein

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Die nächsten Stunden ließ sich keiner der Polizisten blicken und ich war zu meinem Glück vollkommen allein. Nur ich, der Tisch und ein Berg voller Akten über die vermissten Kinder. Wie der Barmann mir richtig erzählt hatte, war das erste Kind vor mehr als drei Wochen verschwunden, das zweite wenige Tage darauf.

Im Bericht war außerdem zu lesen, dass zuerst nur Kinder um die elf oder zwölf Jahre vermisst wurden, die sich im Wald herumgetrieben hatten, was zurückgebliebene Fundsachen bewiesen. Später waren die Entführungen dreister geworden. Sie geschahen nun direkt in der Stadt und es verschwanden genauso jüngere Kinder, die auf dem Weg von einem Freund oder der Schule nach Hause gewesen – und dort nie angekommen waren.

Oft blieben ein GleitBoard, ein Fahrrad oder eine Kappe als einziges Indiz zurück, der den Ort des Geschehens kennzeichnete – sonst nichts. Alle Kinder waren wie vom Erdboden verschluckt und die erwartete Lösegeldforderung blieb aus. Die würde auch nicht mehr kommen, darauf verwettete ich mein eigenes geliebtes GleitBoard.

In den Akten waren zusätzlich Fotos angeheftet: ein zurückgelassener GleitRoller, ein zerrissenes Kleidungsstück oder zerbrochene Äste. Bei den späteren Entführungen waren eingeschlagene Fenster oder Türen abgelichtet worden. Das Biest brannte anscheinend darauf, gestoppt zu werden. Entweder das oder es war einfach nur strohdumm und kümmerte sich nicht darum, dass die Bemühungen, es zu finden, durch dieses rüpelhafte Verhalten erhöht wurden.

Zumindest wäre das in meiner Heimat der Fall gewesen und hochrangige Polizisten, die über die Jägergilde im Untergrund Bescheid wussten, hätten längst Hilfe angefordert – und zwar eine Menge. Doch mit Jeseník war ich so ziemlich im verschlafendsten Nest gelandet, das ich mir auf Gottes Erde vorstellen konnte. Hier wurden die Dinge noch altmodisch geregelt. Somit musste ich meine wahre Identität im Verborgenen halten.

Schließlich wurde ich mit meiner Recherche fertig und hatte nach vier Stunden alle Akten durchgesehen und mir Notizen auf einen Block geschrieben. Viel war in den Unterlagen der Behörden nicht zu finden gewesen, schon gar keine Spur, die etwas Übernatürliches preisgegeben hätte. Was mich jedoch nicht ernsthaft wunderte. Wenn man nicht wollte, sah man es nicht, sondern erklärte sich unerklärliche Phänomene mit irgendwelchen blöden Ausreden, um nachts besser schlafen zu können.

Ich packte daher meine Sachen zusammen, steckte alle Abschriften in meine Tasche und verabschiedete mich anschließend von der Empfangsdame, deren skeptischer Blick mich nach draußen begleitete. Was ebenfalls nichts Neues war.

Somit hatte ich zwei dieser leidigen Aufgaben erledigt, um an Informationen zu gelangen. Fehlte noch eine Stelle, bei der ich antanzen musste. Dann endlich konnte ich mit dem Teil anfangen, der am meisten Spaß machte: mich ausrüsten und hoffentlich ganz viel Blut spritzen lassen.

Hm, der Gedanke an Blut ließ meinen Magen hungrig grummeln und als hätte jemand mein Gebet erhört, sah ich zwei Straßen weiter ein großes, blinkendes M aufleuchten, das ich zielstrebig ansteuerte.

Mit meiner Beute machte ich mich auf ins Hotel, aß dort schnell den saftigen Burger, den ich mit Limo hinunterspülte, und machte mich für den nächsten Schritt fertig. Für meine Nachmittagsverkleidung wählte ich eine biedere schwarze Stoffhose, eine blütenweiße, gestärkte Bluse, einen dunklen Blazer und trumpfte das alles mit Perlenohrringen sowie passender Kette auf – die natürlich nicht echt waren.

Meine Haare ließ ich, wie sie waren, streng zurückgebunden, denn auch zu dieser Rolle passten sie gut, die Brille aber nahm ich ab, da sie fast schon zu dick auftrug. Immerhin wollte ich ja noch ernst genommen werden und nicht zu offensichtlich verkleidet wirken – für jede Rolle musste man auf die richtigen Details achten.

Egal, ob ich es unangenehm und schwierig fand, in diesen kratzenden Klamotten nicht herumzuzappeln oder daran zu zupfen. Leder auf der Haut war immer noch das Beste, aber was tat man nicht alles für den Job.

Wehmütig strich ich über meine Lederjacke, die auf dem Bett lag, und verschwand aus dem Zimmer. In meinem gemieteten GleitAuto, das ich mir heute Morgen besorgt hatte, überflog ich kurz meine Notizen, bevor ich die Familie aufsuchte. Hier war der zwölfjährige Sohn verschwunden, war von der Schule nicht mehr nach Hause gekommen. Das Einzige, was gefunden worden war, war sein Fahrrad, das am Rande eines kleinen Parks gelegen hatte. Sonst nichts. Keine Reifenspuren, keine Fußabdrücke oder dergleichen. Auch kein Fell- oder eindeutige Krallenspuren, was mir mehr Anhaltspunkte geliefert hätte als alles andere.

Das Haus, das ich suchte, befand sich in einer der schickeren Gegenden, besaß hohe Fresken und einen einladenden Garten mit piekfeinem Rasen, der – Wahnsinn – richtig penibel gepflegt wurde.

Mensch, hier musste jeder Halm genauestens gestutzt sein. Es hätte mich nicht gewundert, wenn jemand mit einer Wasserwaage ans Werk ging. Den ganzen gepflasterten Weg entlang zur Haustür juckte es mich in den Beinen, einen Schritt auf den Rasen zu machen. Einfach so, um zu sehen, ob dadurch etwas passierte. Ein Stromschlag oder ein Alarmsignal. Natürlich unterließ ich das, obgleich es mir schwerfiel – sehr schwer.
Heil angekommen, wurde mir die Tür nach zweimaligem Klingeln geöffnet.
„Guten Tag. Ich bin von der Seelsorge geschickt worden, um der Familie in dieser schweren Zeit der Ungewissheit beizustehen."

Für einen Moment wurde das Hausmädchen, das mir geöffnet hatte, leichenblass. Dennoch wurde mir der Eintritt in das Haus gewährt, das ich schon nach einer halben Stunde schlecht gelaunt wieder verließ. Leider mit weniger Information, als ich gehofft hatte. Seelsorgerin oder nicht, die Leute waren wortkarg gewesen, was ich zum Teil verstehen konnte. Einer Fremden etwas zu erzählen, kam hier wohl nicht wirklich in Frage, was nur logisch war. Dennoch wurmte es mich, da ich zuckersüß, fromm und freundlich aufgetreten war. Eine oscarreife Leistung, die leider nicht honoriert worden war.

Ähnlich erging es mir bei den nächsten zwei Familien, die zwar etwas mehr erzählten und mich höflicher nach draußen baten, aber nichtsdestoweniger ohne Neuigkeiten aus dem Haus warfen. Eigenbrötlerisches Volk.
Ein weiterer Nachteil dieser kleinen Stadt und der Grund für den hohen Sold. Der hohe Sold! An dem musste ich festhalten.

Dennoch wanderten meine Gedanken immer wieder zurück zu den Bildern der Kinder, auf denen sie lachten und grinsend in eine Kamera blickten. Noch keine Spur von Angst oder Grauen in den Augen, da sie das Böse nicht kennengelernt hatten. Diese Zeit war nun für immer für sie vorbei, sie waren ihrer Unschuld beraubt worden. Das konnte ich nicht mehr ändern. Aber ich würde alles versuchen, um sie zu retten. So wie ich damals gehofft hatte, jemand möge kommen, um uns zu helfen.

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MONSTER GEEK: Die Gefahr in den WäldernWhere stories live. Discover now