Die Prüfung - Kapitel 1.1

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Gänsehaut überzog ihre Arme, als Ella die dunkle Gasse entlangging. Gebäude, Autos, ja selbst die spärliche Bepflanzung lag grau in grau vor ihr. Einsam. Leblos. Doch das war ein Trugschluss. Die Neunzehnjährige wusste, dass hinter jedem Hindernis ein Schatten lauern konnte. Ein Schatten, der nicht vom zarten Schein des Neumonds verursacht wurde.

Als sie um die nächste Ecke bog, stieg ihr ein penetranter Geruch nach Fäulnis und verbranntem Fleisch in die Nase. Ella wappnete sich, indem sie nur noch durch den Mund atmete, um der aufsteigenden Übelkeit Herr zu werden.

Er musste ganz in der Nähe sein.

Selbst durch den Mund nahm sie den Geruch von Verwesung wahr. Sie ging langsamer, ihr Blick glitt über jedes Hindernis, das auf ihrem Weg lag. Sie scannte die Schatten der Fahrzeuge, der Büsche, ja sogar des Briefkastens an der Ecke. War er dunkler als die anderen?

Der Verwesungsgeruch war nun dominant, löste in ihr den Drang aus, sich entweder zu übergeben oder davonzulaufen. Kam er aus der schmalen Gasse? Sie folgte dem Gestank und machte vor ein paar Kartons halt, die zwischen Müllcontainern gestapelt waren. Oh ja, sie war ganz in der Nähe. Langsam, die rechte Hand erhoben, schlich sie auf die Kisten zu. Ihre Atemzüge durchdrangen die Stille der dunklen Gasse.

Da! Eine Bewegung!

Sie wappnete sich für den Angriff. Ihre Rechte auf Augenhöhe, die Handfläche nach vorne gestreckt, ging sie weiter auf das mutmaßliche Ziel zu. Ihre linke Hand zog das Halstuch bis über die Nase. Ihre Notlösung, die durchaus ihr Ende bedeuten könnte. Ein Hindernis, das sie im Fall des Falles die Worte nicht klar genug artikulieren ließ. Ihr Todesurteil.

Erneut sah sie im Augenwinkel eine Bewegung. Er versuchte, sie zu verwirren. Bewegte sich in seiner unmenschlichen Geschwindigkeit.

Eine Wolke drängte vor die kaum sichtbare Mondsichel. Ella benötigte einen Moment, bis ihre Augen die neuen Grauschattierungen der Dunkelheit unterscheiden konnten. Als hätte er auf diesen Moment gewartet, erhob sich zwischen den Containern eine dunkle Gestalt.

Vor Schreck wich die junge Frau einen Schritt zurück. Ihre gesamte Haltung spannte sich an. In ihrem Kopf legte sie sich bereits den Zauber zurecht. Je näher sie dem Schemen vor sich kam, desto ruhiger wurde sie. Beruhigt nahm sie das zarte Glühen wahr, das von dem Herz des Mannes ausging. Ein untrügliches Zeichen. Er war ein Mensch. Er besaß in der realen Welt eine Seele, war keiner von denen, die sie jagte.

Skouros, die dunklen Söhne Skiàs, hatten ihre Seele verloren, weil sie sich zu lange in der Schattenwelt aufgehalten hatten. Der Schemen vor ihr besaß eine Seele. Die Anzahl von Ellas Herzschlägen verringerte sich vor Erleichterung.

Doch dann ...

NeumondschattenWhere stories live. Discover now