erste Momente - Kapitel 6.2

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Auf dem Weg nach Hause erinnerte sie sich an diesen ganz besonderen Wendepunkt in ihrem Leben, der ihr eigentlich eher peinlich im Hinterkopf hätte bleiben sollen anstelle den Stempel »bester Tag ihres Lebens« zu bekommen. Der Tag, der dazu geführt hatte, dass sie heute gegen Schatten kämpfte, anstatt weiterhin nur Tagträumen über Jeremy nachzuhängen:


Ein gewöhnlicher Schultag. Wie immer starrte Ella auf den Jungen in der Reihe vor ihr, in der Hoffnung, dass er sich umdrehte. Bei jedem Blick in Jeremys graue Augen schien sich Ella zu verlieren. Er betätigte einen Schalter in ihrem Kopf, der sie in ihre Träume lotste. Tagträume, mit ihm an ihrer Seite. Meist kam sie gar nicht erst so weit, den Rest seines Gesichts zu bewundern oder die halblangen Haare, die er stets aus dem Gesicht streichen musste, geschweige denn, sich Gedanken über die wohldefinierten Muskeln an seinem ganzen Körper zu machen, die ihr seit dem letzten Besuch am nahegelegenen Badesee nicht mehr aus dem Kopf gingen.

Als hätte Jeremy ihre Blicke gespürt, wandte er sich um. Seine grübelnden Gesichtszüge verwandelten sich in ein scheues Lächeln, das ein Leuchten in die dunkelgrauen Augen zauberte. Sofort war Ella wie gefesselt und musste stark gegen den Drang kämpfen, erneut in ihre Traumwelt hinüberzugleiten. Als ihm eine dunkelbraune Haarsträhne ins Gesicht fiel, riss der Kontakt ab. Benommen wendete sich die Schülerin wieder der Tafel zu und schüttelte irritiert den Kopf.

Wie konnte so etwas passieren? Jeremy war das, was man in Filmen immer den Star der Schule nannte. Er war nicht nur gutaussehend, sondern entgegen aller Klischees auch stets freundlich und nett, behandelte die Mitglieder des Schachclubs genau auf dieselbe Art wie die seines Fußballvereins. Mit seinem Lächeln konnte er jedes Mädchen und sogar ihre Mütter in einen Zustand der Entzückung versetzen. Wenn er denn lächelte. Trotz aller Beliebtheit wirkte er stets in sich gekehrt oder in Gedanken versunken. Dann bedachte er die Welt mit einem entrückten Blick und Ella redete sich ein, dass auch Jeremy ein Tagträumer war wie sie selbst. Am meisten beeindruckt war sie jedoch von seinen Augen.

Als Jeremy vor einem halben Jahr in die Kleinstadt gezogen war, hatte sie die Farbe der Iris nicht bestimmen können. Auf den ersten Blick wirkte sie grau, jedoch wechselten sie die Farbe je nach Lichteinfall zwischen dem Grün eines dunklen Waldes und dem unheilvollen Blau eines aufgewühlten Meeres. Hielten diese Augen Ella gefangen, hatte sie stets das Gefühl, als wüsste Jeremy mehr über Ella, als sie jemals erahnen könnte. Sie redete sich ein, dass ihm gefiel, was er sah, die kleine Stimme in ihr hoffte so sehr darauf.

Jeremy schenkte den anderen Mädchen, den beliebten Mädchen, niemals dieses besondere Lächeln, mit dem er Ella eben bedacht hatte. Vielleicht spielten ihr die Hormone einen Streich und setzten ihren Verstand aus, aber sie hatte wahrhaftig das Gefühl, dass er den Rest der Mädchen mit einem anderen Ausdruck ansah. Seine Fassade war auch ihnen gegenüber freundlich, aber irgendwie distanzierter, und in seinem Blick lag dann etwas, was Ella nicht wirklich als arrogant bezeichnen würde, wie ihm so manch abgewiesenes Mädchen nachsagte. Ella deutete es eher als ... angewidert.

Leider kam dieses spezielle Lächeln viel zu selten. Die tief in Ella verankerte Angst vor Ablehnung machte es ihr unmöglich, ihn anzusprechen oder ihm gar ihre Gefühle zu gestehen. In ihren Gedanken war er bereits an ihrer Seite. Was würde mit ihren Träumen geschehen, wenn er sie zurückweisen würde wie die anderen Mädchen?

Michelle schien das nicht zu stören. Sie war in dieser Beziehung entweder zu naiv oder ihr Selbstbewusstsein war unzerstörbar. Beinahe täglich startete sie Annäherungsversuche, immer mit dem Elan, als wäre es das erste Mal und sie wäre nie mit einem eindeutigen Nein bedacht worden. Vermutlich gab ihr Aussehen ihr die nötige Kraft dafür. Mit ihrem Körper könnte sie das Cover von zahlreichen Hochglanzmagazinen zieren.

Momente wie diese, Momente, in denen sie sich in seinem Blick verlieren konnte, schürten die Hoffnung, Jeremy würde nicht zu den oberflächlichen Typen zählen, die nicht auf die vielgelobten inneren Werte zählten. Irgendwann würde sie sich überwinden, versuchen, ihm näher zu kommen. Doch noch gewann die Angst den Kampf gegen den Mut.

Am Ende der Stunde passierte es dann: Ella war ein Stift vom Tisch gerollt und sie hatte sich hingekniet, um ihn aufzuheben.

Jeremy hob den Stift mit der linken Hand auf, streckte Ella seine rechte entgegen und bot ihr an, sie hochzuziehen. Ihr Zögern brachte ihr einen unverständlichen Ausdruck auf seinem Gesicht ein. Mit großen Augen sah er sie an, ehe sich seine Augenbrauen auffordernd hoben.

»So sehr ich es schätze, wenn ich angebetet werde ... Du musst das nicht tun«, schmunzelte er. Hatte seine Stimme immer schon diesen rauen Klang gehabt? Ihr Verstand löste sich innerhalb von Sekunden in Rauch auf. Am liebsten hätte sie sich an die Stirn geschlagen, um zu versuchen, ihr Gehirn neu zu starten. »Ich ... ich ...«, stammelte sie von Peinlichkeit berührt vor sich hin.

Jeremy sah sie voller Erwartung an. Ein gehauchtes »Danke« kam ihr mit aller Mühe über die Lippen, als sie nach ihrem Stift griff und auf die Beine kam. Während sie aufstand, holte sie tief Luft. Jeremys Geruch umnebelte ihre Sinne. Eine Mischung zwischen Sonne und Lagerfeuer, und etwas Süßem, ganz eigenem, was Ella noch nie an jemand anderem gerochen hatte.

»Gern geschehen.« Er machte eine kurze Pause, unterzog sie dabei wieder einer ausführlichen Musterung, die ihr eine Gänsehaut verursachte. Am liebsten hätte sie die Arme vor der Brust verschränkt. Sie fühlte sich unbehaglich und gleichermaßen doch so interessant, wie sie es noch nie verspürt hatte. Ersteres ließ ihre Schüchternheit die Oberhand gewinnen und sie starrte befangen zu Boden. Letzteres spendete ihr genug Energie für ein scheues Lächeln, das ihr wiederum Kraft für einen Augenaufschlag schenkte. In diesem Moment konnte sie Jeremys Ausdruck nicht deuten. War es Neugierde oder gar Begierde, die sie in seinen nun dunkelgrauen Augen aufflammen sah? Jetzt war er es, der aus dem Konzept gebracht zu sein schien. »Ich ... Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht Lust hättest, Samstag zum Spiel zu kommen?« Die unausgesprochene Bitte machte aus dem Satz einen Lockruf, der den des Rattenfängers in den Schatten stellte. »Du musst mich auch nicht anbeten«, fügte er hinzu. Seine Augen zwinkerten dabei schelmisch.

»Du willst, dass ich dir zuschaue, während du Fußball spielst?« Ihre Frage klang härter als beabsichtigt. Daher ruderte Jeremy sofort zurück:

»Wenn du Fußball nicht magst, ist das kein Problem. Vielleicht können wir ja später etwas anderes unternehmen.«

Selbst wenn er Ella dazu eingeladen hätte, ihm beim Schlafen oder Essen zuzusehen, hätte sie sofort zugesagt. Aber der Gedanke an einen verschwitzen Jeremy in kurzen Hosen klang um einiges aufregender.

»Ich würde gern kommen.« Sie versuchte ein beschwingtes Lächeln aufzulegen, was ihr bei dem starken Drang, laute Freudenschreie auszustoßen und über die Tische zu hüpfen, nicht sehr leicht fiel.

Ehrlich erfreut strahlte Jeremy sie an. »Ich gebe dir noch Bescheid, wann sich das Team trifft.«


Dies war der Anfang von etwas Besonderem gewesen, der Funke für die Zündschnur, die während der nächsten Monate entbrannt war. Auch wenn sie sich beide auf ihr Abitur konzentrierten, genossen sie die gemeinsame Zeit, selbst wenn es Küsse nur für bestandene Testklausuren gab. Es war die schönste Zeit in Ellas Leben gewesen. Nie zuvor hatte sie geglaubt, solche Gefühle entwickeln zu können, sich wie eins mit einem anderen Menschen zu fühlen.

An lernfreien Tagen gingen sie zusammen an den nahegelegenen Baggersee, fläzten sich in der Sonne und lachten über die Gänsehaut, die Jeremy mit jeder Berührung bei Ella auslöste.

Sie trafen sich immer nur tagsüber. Jeremys Mutter war etwas seltsam gestrickt, erklärte Jeremy, und hatte Probleme damit, im Dunkeln das Haus zu verlassen und bat auch ihren Sohn, es nicht zu tun.

Jetzt, wo Ella all die Geheimnisse kannte, die Jeremy vor ihr verborgen hatte, lachte sie über diese Begründung beinahe auf.

Doch damals hatten die beiden nur einen Wunsch, den sie sich in dem gemeinsam geplanten Urlaub erfüllen wollten. Sie hatten es sich bis ins kleinste Detail ausgemalt: Ihre erste gemeinsame Nacht würden sie im Freien verbringen, vielleicht sogar am Strand. Dort würden sie die unzähligen Sterne am Himmel beobachten, über die Jeremy so viel zu wissen schien. Und vor diesen Millionen Zeugen sollte ihr erster nächtlicher Kuss geschehen.


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