Niks Vergangenheit - Kapitel 6.1

15 2 0
                                    

6


Als Ella die Augen aufschlug, lag sie auf dem Boden des Trainingsraumes, Niks Gesicht ihrem erschreckend nahe.

»Was-«, setzte sie an. Nik zog sich sofort zurück.

»Ich habe deine Atmung überwacht«, erklärte er peinlich berührt. »Der Magos hat es eindeutig übertrieben, er wird sich später vor Laurenz verantworten müssen.«

Ella spürte den Zorn von Nik, konnte ihn vollkommen nachvollziehen. Das Training mit Nik hatte immer nur das Hervorbringen des Lichts beinhaltet, keine Angreifer. Der Magier hätte sie wenigstens vorwarnen müssen. Vorsichtig stemmte Ella ihren Oberkörper hoch, zog ihre Knie an und verknotete sie in ihrer ganz eigenen Form eines Lotussitzes. Ihr Trainer wich erneut ein Stück zurück.

»Wo stecken Jan und Kim?« Ella sah sich suchend um.

»Kim ist rechtzeitig zurückgekehrt, sie hat sich nicht derart übernommen wie du. Sie verfolgt gerade Jans Kampf gegen die Schatten.« Nik deutete auf den Kreis und Ella erkannte Kims reglose Gestalt, leicht vom Nebel umhüllt. Obwohl sie in ihre Richtung blickte, schien sie Ella nicht zu sehen. Ein untrügliches Zeichen, dass sich Kim in der Schattenwelt befand, um Jan beizustehen. Wie gerne hätte auch Ella jemanden an ihrer Seite gehabt.

Noch ehe sich ein bestimmter Name in ihrem Geist festfressen konnte, lenkte sie sich selbst ab. »Hat dein Training auch so begonnen?«, fragte sie Nik. Dieser zögerte, als müsste er genau überlegen, was er Ella erzählen durfte und was nicht. Ella kniff skeptisch die Augen zusammen.

»Ich bin ein Sohn Skiàs, ich wurde mit der Fähigkeit des Schattenwandelns geboren. Mein Vater besaß dieses Talent ebenfalls und war ein erfolgreicher Kämpfer in London. Von klein auf habe ich mit einem Holzschwert auf Dummies eingehauen. Schwarze, graue und anthrazitfarbene Stoffpuppen, die aus allen Richtungen aufzutauchen schienen. Mein Vater konnte auf das ausgeklügelte Trainingssystem des Londoner Instituts zurückgreifen. Ich war nicht der Einzige, der dort von Kindesbeinen an trainierte. Am ehrgeizigsten war ein gewisser James Walker.« Er machte eine Pause, um Ella die Möglichkeit zu bieten, das Gehörte, diesen Namen, zu verarbeiten.

»Du hast ... Ich meine, du kennst-« Sie brachte ihren Satz nicht zu Ende, wagte nicht, die Frage zu stellen. Doch Nik hatte nur darauf gewartet und antwortete prompt: »Ja, das war der Grund dafür, mich hierher versetzen zu lassen und eure Ausbildung zu übernehmen. Nur so konnte ich sicherstellen, dass es James' Sohn Jeremy gut geht und alles Erdenkliche getan wird, um ihn aus diesem Zustand zu holen. Jeremys Vater war mein Partner, mein Etairos. Wir waren immer gemeinsam auf der Jagd.« Sein Blick rückte in weite Ferne, Ella konnte beinahe sehen, wie Nik vor Jahren oder gar Jahrzehnten an der Seite von Jeremys Vater, in Ellas Gedanken eine etwas strengere, kantigere Version von Jeremy, durch das London in Skiàs Welt liefen, einen Skouro nach dem anderen vernichteten und anschließend in einem Pub auf den Erfolg anstießen.

»Ich-«, Niks Gesicht verzog sich, als würde es ihm Schmerzen bereiten, die nächsten Worte auszusprechen. »Ich war auch in jener Nacht an seiner Seite.«

Mehr sagte er nicht dazu und Ella benötigte einen Moment, um die Zusammenhänge zu erfassen. »Du warst dabei, als sein Körper übernommen wurde?«, versicherte sie sich.

Nikolaos nickte nur und sah konsequent auf das Parkett vor sich. Im Laufe der Erzählung hatte er von der Hocke in den festen Sitz auf den Boden gewechselt. Seine Beine lagen locker vor ihm. »Ich hatte gespürt, dass in dieser Neumondnacht etwas anders war. Bauchgefühl, Vorahnung, Vision - du kannst es nennen, wie du willst, aber ich wusste es einfach. Die Verbindung zum Etairos ist stark, James und ich hatten immer gescherzt, dass unsere sogar viel stärker war als die der anderen Jäger. Unser Erfolg schien dies zu bestätigen. Und so hatte ich dieses merkwürdige Gefühl, als er den Sfragisi sprach und anschließend überwechselte. In dieser Neumondnacht stand ich ihm in der realen Welt zur Seite, achtete darauf, allen Menschen, denen wir auf unserem Gang durch die Stadt begegneten und denen wir merkwürdig vorkamen, mit dem Lithi die Erinnerung zu nehmen.«

Der Lithi war die Tarnung der Jäger. Er gehörte zu den fünf Zaubern, die auch Menschen erlernen konnten. Der Etairos musste die Erinnerungen der Menschen, die Zeuge eines Kampfes in Skiàs Welt wurden, der vom Körper in dieser Welt gespiegelt wurde und oft kritische Blicke auf sich zog, umnebeln. Mitunter war der Job des Etairos' kräftezehrender als der des Jägers in der Schattenwelt.

»Ich folgte seinem Körper durch düstere Gassen in den abgelegensten Ecken Londons, als sein Körper plötzlich zu zucken begann. Sofort nahm ich den Verwesungsgeruch wahr, den die Verletzung im Skià nach sich zog. James gesamter linker Arm begann zu zerfallen. Wir waren für den Ernstfall trainiert. Ich blickte mich nur für einen kurzen Moment um, dann wechselte ich ebenfalls über. Doch es war bereits zu spät. Ich sah noch, wie der Skouro die Verbindung zum Körper löste und der Silberreif an James' Handgelenk verschwand.«

Erschrocken keuchte Ella auf. Wie war dies möglich? Ihr war gesagt worden, dass der Sfragisi den Körper schützte und versiegelte und ein Kappen der Verbindung von Körper und Schatten unmöglich machte.

Nikolaos schien ihre Gedanken zu erraten. »Es hätte nicht möglich sein dürfen. Die Magie des Sfragisi ist so stark, dass kein normaler Skouro sie brechen könnte.«

Jeremy war ebenfalls Opfer des Sfragisi geworden. Er hatte niemals gewusst, dass man seinen Körper vor dem Übertritt versiegeln musste. Als geborener Schattenwandler benötigte er genauso wenig wie Nik einen Zauber für den Übertritt und hatte ihn ohne tiefere Kenntnisse bewältigen können. Sein Hunger auf das Unbekannte, das er erst später als Seele der Menschen identifizierte, hatte ihn überwechseln lassen.

Ohne das Wissen über den Sfragisi hatte er ihn natürlich auch niemals anwenden können. Aber wie hatte der Schatten die Barriere bei Jeremys Vater überwunden? Ellas Geist kreiste und kreiste, brannte auf die Erklärung ihres Trainers, der jedoch ebenso verstummt war.

Die Niedergeschlagenheit hatte tiefe Furchen in das ansonsten so jung wirkende Gesicht gezogen. Er erinnerte sich nicht gerne an diese Nacht, das war ihm anzusehen. Wer konnte es ihm verdenken? Nik hatte jedoch Ellas Hochachtung verdient. Die Tatsache, dass er sich um Jeremy kümmern wollte, zeugte von seinem Kampfgeist. Er wollte seinen Partner vertreten, den Platz von James einnehmen, sich um dessen Sohn kümmern.

»Du hältst dich doch nicht für schuldig?«, brach es aus Ella heraus. Doch war es nicht offensichtlich?

»Ich bin mir nicht sicher«, gestand Nik. »Hätte ich James von meinem Gefühl erzählt, hätte er mich vermutlich ausgelacht. Wäre ich ihm in Skiàs Welt gefolgt, hätte ich meinen Auftrag vernachlässigt und er hätte mich noch für einen Stalker gehalten. Ich bin es hunderte Male durchgegangen, glaub mir. Und da sind die unzähligen Berichte dem Rat gegenüber nicht mit eingerechnet.« Er seufzte. Vielleicht tat es ihm gut, darüber zu reden. War ihm diese Tatsache die ganze Zeit auf den Schultern gelastet? Hatte er nicht gewusst, wie er es Ella erzählen sollte?

»Ich bin froh, dass ich es weiß. Danke.«

Nikolaos presste die Lippen fest zusammen, als wollte er sich daran hindern, noch mehr zu sagen. Daher ergriff Ella erneut das Wort. »Wir sind für den Rest der Woche an der Uni. Und ich werde alles studieren, was es über den Sfragisi zu wissen gibt. Vielleicht ist etwas Derartiges schon einmal passiert und wir finden ein Schema?« Sie hob ihre Stimme am Ende zu einer Frage an, Nik reagierte jedoch nicht. Erst nach mehreren Minuten zuckte er mit den Schultern. Dass er Ella alles erzählt hatte, schien ihn verändert zu haben. Weg war der starke Nik, der stets die Fassung bewahrte und den nichts aus der Ruhe bringen konnte, der - ganz im Gegenteil - immer noch einen guten Spruch auf Lager hatte. Ella konnte nur hoffen, dass er beim nächsten Training zurückkehren würde.

Als Jan und Kim zu Ella kamen, klingelte Niks Handy. Er sprang auf und verschwand mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Ella fragte sich, wer ihn so schnell aus der Melancholie reißen konnte.

Die fragenden Blicke ihrer Freunde ignorierte Ella. Sie musste das Gehörte erst selbst verarbeiten und überlegen, ehe sie mit ihren Freunden darüber reden konnte.


NeumondschattenWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu