Die Berufung - Kapitel 3.2

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Laurenz erhob sich von dem Kissen und ging auf Jan zu. »Du bist der erste Neolaia, der die Prüfung an unserem Institut bestanden hat. Du hast deine Kraft und Stärke erkennen lassen, hast gezeigt, wie du auf Unvorhersehbarkeiten reagierst und damit bewiesen, dass du würdig bist, die wahren Zauber gelehrt zu werden. Wir freuen uns, dich in den Kreis der Jäger aufzunehmen.« Laurenz legte Jan die Hand auf den Kopf, den dieser demütig gesenkt hatte.

Erneut spürte Ella die Hitze der Flammen, die in dem Moment zu unnatürlicher Größe heranwuchsen. Als sie sich beruhigt hatten, ging Laurenz weiter zu Kim. Er wiederholte die Worte nahezu identisch und lobte Kims Loyalität und das Talent, Gefahren einschätzen zu können. Wenn sie ihre Ausbildung fortsetzte, würden solche Unglücke wie in der letzten Nacht nicht mehr vorkommen.

Zum Schluss trat der Meister zu Ella. Sie malte sich bereits aus, was sie erwidern würde, wenn er ihr die Absage erteilte. Die Worte lagen bereits auf ihrer Zunge. Sie würde flehen, betteln, ganz gleich, was nötig war, um eine Jägerin zu werden und das wahre Kämpfen zu erlernen. Sie würde es tun. Sie blickte auf Laurenz' nackte Füße und spürte die Hand auf ihrem Kopf, wappnete sich für seine Rede.

»Ella, du bist der Grund, warum wir überhaupt hier vor Ort ausbilden. Du bist zu den Vertretern in London gegangen, um Hilfe zu erbitten und hast sie in einer Form erhalten, die vermutlich keiner von euch vorher erwartet hätte.«

Ella schüttelte den Kopf. Die Klassenfahrt nach London, die ihre Mutter mühsam zusammengespart hatte, hatten sie, Jan und Kim dazu genutzt, den Hinweisen zu folgen, die sie in den Tagebüchern von Jeremys Vater gefunden hatten. Diese hatten sie wenige Tage zuvor von Jeremys verzweifelter Mutter erhalten. Nachdem sie schon ihren Mann an die Skouros verloren hatte, fürchtete sie das Schlimmste. Daher unterstützte sie die drei Freunde mit allen Informationen, die sie hatte - in Form der Tagebücher. So fanden Ella, Jan und Kim die ersten Hinweise auf einen hohen Rat, folgten während der Klassenfahrt den Anhaltspunkten vor Ort, bis sie von einem jungen Mann nahezu überfallen wurden. Er hatte gespürt, dass der Schatten eines Wandlers Ella folgte. Dann ging es Schlag auf Schlag, eine Sitzung wurde einberufen, die jungen Leute vorgestellt und eine schnelle Strategie entwickelt, die beinhaltete, dass Nikolaos, einer der dortigen Ausbilder, die drei begleitete und der Gruppierung vor Ort vorstellte. Laurenz war ganz angetan von der Idee und so waren sie hier gelandet.

Ein Räuspern von Laurenz brachte sie auch wieder an Ort und Stelle. Zu den Worten, die sie nicht hören wollte. Zu ihrem Meister, der ihr gleich eine Absage erteilen würde. Ella wurde eiskalt, sie zitterte trotz der aufsteigenden Flammen in der Kreismitte, die sie kurz zuvor noch gewärmt hatten.

»Ella, auch wenn deine heutige Prüfung nicht gerade dem normalen Hergang entsprach und du dich selbst in Gefahr gebracht hast, kannst du nichts für das Einschreiten deiner Freunde. Im Gegenteil: Ihnen ist es zu verdanken, dass wir nicht schon während der ersten Prüfung eine Neolaia verloren haben.« Laurenz machte eine kurze Pause, die Kerzenflammen stiegen höher und höher. »Wir heißen auch dich im Kreis der Jäger willkommen und freuen uns, dass du uns im Kampf gegen die Skouros unterstützt. Sie dürfen Skià niemals die Tore öffnen.«

Eine Stichflamme schoss aus den Kerzen empor, als der Meister auch seine zweite Hand auf Ellas Kopf legte. Ihr Blut schien mit einem Mal zu brodeln. Kurz blitzte ein Gedanke in ihr auf: weiße Flammen, die dem Fos ähnelten. Flammen, mit denen sie die Schatten besiegen konnten. Nach wenigen Augenblicken war der Spuk vorbei. Laurenz nahm seine Hände von Ellas Haar, ging gemächlich zu seinem Platz zurück und setzte sich in ebenso trägen Bewegungen. Hatte ihn die Zeremonie angestrengt?

»Auch ich heiße die neuen Jäger im Kreis willkommen«, begann der Magos. Sein Tonfall spiegelte nicht wie erwartet seine Worte. Er schien alles andere als begeistert über die Entwicklung zu sein. Vielleicht war er Magos in diesem Institut geworden, weil er nichts mit der Ausbildung der Neolaias zu tun haben wollte? »Möge euer Licht die Schatten der Welt vertreiben!«, setzte er hinzu.

Die Jäger im Kreis rissen ihre rechten Hände empor, ballten sie zu Fäusten und wiederholten den gemeinsamen Leitspruch: »Möge euer Licht die Schatten der Welt vertreiben!«

Anschließend erhoben sich alle, auch Ella und ihre Freunde, um die Glückwünsche der Jäger entgegenzunehmen. Stolz blitzte in deren Augen auf, Freude über die neue Unterstützung.

Doch Ella wusste, dass noch ein langer Weg vor ihnen lag. Sie mussten hart trainieren, bis sie annähernd an die Künste der ausgebildeten Jäger herankamen. Ella freute sich auf diesen Weg. Denn ganz gleich, wie viele Hürden er ihr bot, er würde sie unwillkürlich ihrem Ziel näher bringen: gegen den Schatten zu bestehen, der Jeremys Körper und Geist gefangen hielt.


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