Erinnerungen - Kapitel 4.2

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»Willst du etwa behaupten, dass ich wie ein Mädchen kämpfe?« Seinem Tonfall nach zu urteilen, nahm Jan die Stichelei mit Humor.

»Nicht nur.« Nik wischte sich theatralisch über die Stirn und strich sich imaginäre Haarsträhnen aus dem Gesicht, wobei er den Kopf nach hinten warf.

Jan verzog sein Gesicht zur Grimasse. »Es kann nicht jeder so haarlos sein wie du, Meister Propper«, konterte er.

»Selbst die Mädels«, Nik deutete mit seinem Kampfstab auf Kim und Ella, »haben kein Problem damit, ihre Haare unter Kontrolle zu bekommen. Das könnte im Ernstfall über Leben und Tod entscheiden. Ich habe es dir mehr als einmal gesagt. Ich glaube nicht, dass die Skouros warten, bis du wieder etwas sehen kannst.«

Wie ertappt strich Ella sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht. Ganz gleich, wie stark sie ihren roten Mob auf dem Kopf zu zähmen versuchte, sie versagte. Sie dachte an einen Traum zurück, den sie in der Nacht nach der Offenbarung von Jeremys gemeinsamen Urlaubsplänen gehabt hatte.

Die einsame Bucht, in der sie sich befunden hatten, glich einem Paradies. Von hohen Bergen umrandet, die auf dem sanft ansteigenden Bereich der ersten Meter von majestätischen Bäumen bewachsen war, glich die Bucht einem Nest. Es war nahezu windstill. Nur geringfügig stieg ihr der Duft des Meeres in die Nase. Zu ihrer Rechten neigten sich Palmen dem Wasser entgegen. Deren Schatten erreichten mit Hilfe der untergehenden Sonne beinahe das Ende des weißen Sandes, als würden sie versuchen, die anderen Pflanzen zu berühren. Das Wasser der Bucht wurde nur von zarten Wellen bewegt, die das noch vorhandene Sonnenlicht in sämtlichen Rottönen widerspiegelten.

»Es lässt deine Haare rötlicher erscheinen, als sie sind. Wie ein Flammenmeer«, bemerkte Jeremy, während er mit seiner Hand eine Strähne ihrer Haare einfing und beinahe ehrfurchtsvoll die Reflexion der Sonne betrachtete, die bei jeder kleinen Bewegung entstand.

Die beiden lagen einander zugewandt auf einer schneeweißen Decke, deren Farbe sich kaum von dem karibischen Sand abhob. Ella atmete tief ein, um seinen Geruch zu genießen. Er duftete nach Sonne und einem Hauch Meer, in das sich das Aroma eines sportlichen Aftershaves mischte. Die nicht allzu dominante, fein-süßliche Note darin untermalte ihre Gefühle in diesem Moment perfekt. Jeremy ließ ihre Haare aus seinen Fingern gleiten, ehe er weitere widerspenstige Strähnen aus ihrem Gesicht streifte. In Erwartung der Berührung hielt sie den Atem an. Als seine Finger ihre Schultern streiften, tobte eine Welle Endorphine durch ihre Adern. Gänsehaut überzog ihre Arme, die feinen Härchen darauf richteten sich auf, als wetteiferten sie gegenseitig um eine Wiederholung. Der Kontakt mit dieser nun sensibilisierten Haut ließ sie positiv erschaudern. Wieder und wieder glitten Jeremys Finger sanft von ihrem Nacken bis zu ihrem Handgelenk. Ihr Herz schlug immer schneller, als sich sein Gesicht näherte. Millimeter für Millimeter, Atemzug für Atemzug überwand er die kurze Distanz zwischen den beiden. Ella kostete seinen Atem, genoss die Wärme, die er ihr bescherte, sonnte sich in der Vorfreude dieses besonderen Kusses. Selbst die Schmetterlinge in ihrem Bauch verharrten für einen Moment. Für diesen kurzen und zugleich unendlichen Augenblick, ehe seine Lippen auf ihre trafen. Die Woge der Vorfreude wurde zu einem Tsunami an Gefühlen. Wie in einem Rausch kostete sie von ihm, genoss die Liebkosung seines Kusses, ließ sich auf den stürmischen Wellen ihres Verliebtseins treiben. Sie sehnte sich bereits nach mehr, als sein Mund sie plötzlich wieder freigab. Der Kuss war vorüber. Ella hielt ihre Augen weiterhin geschlossen, um diesen Moment fest in ihren Erinnerungen zu verankern, während sie leise seinen Namen flüsterte.


In diesem Moment war sie erwacht und hatte gehofft, dass diese Berührung, dieser Kuss am Strand nach ihrem Abschluss Wirklichkeit wurde. Aber es war nie dazu gekommen. Am nächsten Tag war Jeremy von dem Schatten besetzt und knutschte mit sämtlichen Mädchen der Schule herum. Die Oberzicke Michelle war dabei Favoritin gewesen.

Ella schüttelte sich und blinzelte schnell die Tränen beiseite, die ob dieser negativen Erinnerung hervordringen wollten. Das war die alte Ella gewesen. Die schüchterne Version von ihr, die sich lieber in ihre Tagträume geflüchtet hatte, als den ersten Schritt auf Jeremy zuzugehen. Viel zu sehr hatte sie sich vor Ablehnung gefürchtet. Schließlich war Jeremy tagtäglich von Mädchen umringt gewesen, die ihn anhimmelten wie einen Kinostar und nicht wie den Stürmer des Lokalvereins. Dass er seine Groupies immer mit Höflichkeit von sich schob, war Ella erst an diesem einen Tag aufgefallen, als er wenig später auf sie zukam und sie mit einem Lächeln bedacht hatte, das ihre Knie weich werden ließ. Ella erinnerte sich noch genau an das Farbspiel seiner Augen, während er sie fixierte hatte, um ihr eine Antwort zu entlocken.


NeumondschattenWhere stories live. Discover now