Jeremy - Kapitel 2.1

41 6 0
                                    

2


Wie erstarrt blickte Ella auf den Körper, der am Ende des Raumes aufgebahrt war. Nichts hatte sie darauf vorbereitet, wie schnell Jeremys Verfall vonstattengehen würde. Selbst der Magos hatte immer wieder beteuert, dass Ella noch viele Wochen Zeit hätte. Da musste er sich getäuscht haben.

Beinahe paralysiert ging Ella den langen Raum entlang, der mit seinen weißen Wänden und der kühlen Beleuchtung so kalt wirkte wie ein Operationssaal im Krankenhaus. Der starke Kontrast zum hinteren Bereich, in dem Jeremy lag, war ein Unterschied wie Tag und Nacht. Das Feldbett unter Jeremy war mit altem Leder überzogen, das alles andere als steril sein dürfte. Kerzen und Duftöle waren auf kleinen Tischen rund um Jeremy aufgebaut und verströmten nicht nur einen penetrant süßen Duft, sondern tränkten die Luft um den scheinbar leblosen Körper mit echter Magie.

Ella biss die Zähne zusammen, um nicht sofort ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Das Training mit den anderen in den letzten Monaten hatte sie stärker gemacht, als sie immer geglaubt hatte, zu sein. Doch angesichts der Bilder vor ihr bekam die Mauer der Stärke um sie herum Risse, begann zu bröckeln und drohte, jeden Moment einzustürzen. Jeremys Schatten lag blass neben seinem Körper. Beide leblos, wie tot. Wie Schneewittchen in ihrem gläsernen Sarg. Ella würde nur zu gerne den giftigen Apfel aus seinem Inneren schütteln.

Wenn Jeremy damals doch nicht so neugierig gewesen wäre und sie in Schattengestalt besucht hätte! Dann würde er nun nicht so vor ihr liegen. Ella machte sich immer noch Vorwürfe, ganz gleich, wie oft ihr Jeremy in der vorletzten Vollmondnacht beteuert hatte, dass er selbst schuld war. Ella verzog gequält das Gesicht.

Vollmond. Neben dem Neumond die einzige Zeit, in der die Grenze zwischen Skiàs Welt und der Welt der Menschen verwischte und durchlässig genug war, um ganz besondere Dinge zu tun.

Ella erinnerte sich an den ersten Schock, den Jeremy ihr verpasst hatte, nachdem er bei Neumond zu ihrem Schatten wurde und wild gestikulierte, um sich ihr zu offenbaren. Sie hatte es anfangs für ein Hirngespinst gehalten, so sehr sehnte sie sich nach Jeremys Nähe. Doch er hatte sich zu der Zeit so stark verändert gehabt, dass sie eine Trennung für unausweichlich hielt. Aus dem netten Jungen von nebenan, der Ellas Herz mit seinen strahlenden Augen zum Aussetzen brachte - ganz zu schweigen von dem besonderen Lächeln, das er ihr von Anfang an geschenkt hatte - war ein echtes Ekelpaket geworden, das jedes Mädchen ausnutzte, das nicht bei drei verschwunden war.

Sein Körper baute ab, zerfiel beinahe. Er sah krank aus, hatte stark abgenommen, sein Gesicht war eingefallen und die Augen waren von dunklen Schatten umrandet. Was jedoch das Schlimmste war: Er hatte keinerlei Glanz mehr in den Augen. Ella hatte die ganze Zeit über gewusst, dass etwas nicht stimmte. Doch wer hätte ihr geglaubt? Jan und Kim nahmen zu der Zeit an einem Schüleraustausch teil und so konnte Jan Ella lediglich am Telefon beistehen. Sie selbst jedoch war gewillt herauszufinden, was mit Jeremy passiert war. Und sie hatte es geschafft. In der Neumondnacht, in der Jeremy Walker zu ihrem Schatten wurde, der in Vollmondnächten in der Lage war, mit ihr zu sprechen, sie sogar zu berühren!

Die Sehnsucht brachte Ella beinahe um. Die sechs Monate, die sie zusammen gewesen waren, hatten vor allem aus Lernen und Abiturprüfungen bestanden. Nach der letzten Klausur hatten sie sich für das Wochenende verabredet gehabt, doch der seelenlose Schatten kam ihnen zuvor, hatte all die Magie zerstört, die zwischen ihnen immer stärker geworden war, für die Küsse das reinste Benzin waren.

Nun blieb Ella nur, die kalte Hand auf dem Feldbett zu ergreifen, deren Puls kaum spürbar war. Zärtlich streichelte sie über den Handrücken und unterdrückte nur mühsam die Tränen.

Warum nur hatte Jeremy seinen Körper verlassen, ohne ihn zu versiegeln? Die Frage hatte Nikolaos ihr oft gestellt. Die Antwort war einfach. Jeremy hatte es nicht besser gewusst. Er besaß die Fähigkeit, in die Schattenwelt zu wechseln, jedoch keinerlei Wissen über all die Hintergründe des Erbes, das er angetreten hatte. Sein Vater war von einem Skouro besetzt und zugrunde gerichtet worden, als Jeremy zwölf gewesen war. Noch bevor er seinem Sohn etwas über Skià und die Schattenwelt erzählen konnte. Bevor er ihn warnen konnte, nicht ohne Sfragisi seinen Körper zu verlassen. Jeremy erhielt Ratschläge nur von seiner Mutter, die diese Kräfte selbst nicht besaß und vor lauter Angst um ihren Mann nie weiter in diese Welt hineingezogen werden wollte. Und nun lag Jeremy hier, sein Schatten nur ein Hauch von Nebel, trotz all der Lampen im restlichen Teil des Raumes.

Der Magos sagte, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ginge. Wie hasste Ella diesen Spruch!

Sie drückte Jeremys Hand ein letztes Mal, ließ ihre Finger anschließend vorsichtig über das bleiche Gesicht gleiten, das ihr so viel bedeutete, und stand von dem kleinen Hocker auf, der neben dem Lager stand.


NeumondschattenWhere stories live. Discover now