001 - PEYTON

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Centenniel würde die Kinder ihrer Schöpfer schützen und sie sicher den Strom der Zeit hinuntertragen."

Der Leitspruch der Stadt prangte an der gläsernen Kuppel der Stadt. Jeder der auf die Straße hinaus trat, las ihn sich durch und wurde an seinen kostenlosen Schutz erinnert, den Centenniel jedem Bewohner bot. Jeder glaubte daran und jeder dankte Walsh und Celment für die Errichtung der gläsernen Metropole inmitten der unendlichen Seuchenwüste – jeder, außer Peyton.

Peyton war der Meinung, dass man nichts einfach so bekam. Im Leben hatte alles seinen Preis und in den letzten Jahren hatten die Menschen vergessen. Vergessen woher sie kamen. Sie waren an ihre Umwelt angepasst so vollkommen angepasst, wie diese an sie. Was jenseits der Stadtmauern und der schützenden Kuppel lag, berührte sie nicht. Centenniel war alles, was existierte, alles, was sie brauchten, alles, was sie sich vorstellen konnten. Es war ihnen gleichgültig, was außerhalb ihres Blickfeldes geschah und was mit der eigentlichen Welt, mit ihrer Herkunft, passiert war – wobei...so genau konnte das einem niemand sagen.
Peyton selbst erinnerte sich nicht an den Tag, an dem sie in die glänzende Stadt gekommen war.
Es gab nur eine einzige Erklärung, die Peyton von ihren Eltern bekommen hatte: Vor längst vergangenen Zeiten, vor der Gründung Centenniels, war etwas geschehen, das nicht nur die Neugier und den Ehrgeiz des Menschen zu verdanken war, sondern auch zwei Menschen, die in ihrem selbst erschaffenen Unglück untergegangen waren – und eine todesbringende Zerstörung hinterlassen hatten.

Seit Jahren sprach niemand von den Unglücken, die die Menschen damals zur Flucht getrieben hatten.
Niemand sprach mehr von den Seuchenwinden, die Millionen von Menschen getötet hatten.
Niemand sprach mehr von den wenigen tausend Menschen, die das Glück hatten und Centenniel schneller erreicht hatten als der Tod sie.
Niemand sprach von den Opfern, die trotz Ankunft in Centenniel einige Jahre später gestorben waren, da sich die Seuche in ihrem Körper festgesetzt und von innen nach außen hin langsam zersetzt hatte.
Weder wusste es die Stadt noch wollten sie es wissen.
Die Stadt nicht.
Aber Peyton.

Jetzt hatte sie aber keine Zeit, um an die Geschehnisse außerhalb der Stadt nachzudenken. Denn sie war zu spät – zu spät zur Arbeit. Mal wieder.
Fluchend rannte sie um die nächste Kurve und blickte auf die alte Uhr des alten Theaters – sie war schon zehn Minuten zu spät. Wenn sie sich clever anstellte und eine der Lieferungen abpasste, könnte sie sich mit dem Frachter in die Fabrik schleichen und somit Finchs Blick ausweichen.
Der großgewachsene Mann mit der dicken Lederjacke hatte Peyton schon des Öfteren dabei erwischt, wie sie zu spät gekommen war und sich versucht hatte unbemerkt an dem Sicherheitspersonal vorbeizuschleichen.

„Ich habe meine Augen überall, Kleine. Vergiss das nicht", hatte er ihr immer wieder gesagt und ihm war es egal, dass Peyton bereits einundzwanzig war. Seine Bezeichnung „Kleine" hatte er ihr am ersten Tag in der Fabrik gegeben und ändern würde er sie nicht. Für ihn und alle anderen würde sie immer die Kleine bleiben.

Peyton schüttelte den Gedanken ab und blickte sich nach allen Seiten um. Vor ihr befand sich das Fabrikgelände. Drei große Laster standen auf dem Parkplatz, die Planen waren geschlossen und einige Sucher liefen in ihren dunklen Anzügen umher, prüften die Nähte an den Fahrzeugen und die Dichtungen an den Fenstern. Einige riefen Kommandos nach drinnen und dann liefen Männer in Anzügen heraus. Sie hatten die flachen Sauerstoffkanister auf ihre Rücken geschnallt und rannten mit ihrem Helm in den Händen zu den Lastern. Schnell stiegen sie ein und nach einem Zeichen verließen sie den Hof der Fabrik.

Peyton wusste wohin die Laster fuhren und in ihren Fingern kribbelte es jedes Mal, wenn sie sich zusammenriss, damit sie sich nicht unter eine der Planen schlich, um auf der Ladefläche mitzufahren. Die Seuchenwüste war zu gefährlich – und tödlich für jeden, der keinen Sauerstoffanzug trug. Jeder einzelne Sucher begab sich jeden Tag aus Neue in die Wüste hinaus, auf die Gefahr hin sich dort die Seuche einzufangen. Eine undichte Stelle im Anzug und die Suche des Lasters war abgebrochen. Der Wagen fuhr dann zurück in die Stadt und mit viel Glück hatte der Betroffene noch einige Tage zum Leben und war nicht ansteckend – meistens aber wurden die Symptome so schnell sichtbar, dass der Sucher erschossen wurde.

„Psst...Peyton."

Erschrocken zuckte Peyton zusammen und ließ ihren Blick über den Hof schweifen. Dort, an der Einfahrt von Tor zwei hockte Waelon. Sein dunkelblondes Haar war leicht verschwitzt, doch ein erleichtertes Lächeln lag auf seinen Lippen, während seine blauen Augen aufmerksam umher huschten. „Komm schnell."

Eilig rannte sie zu ihm rüber, kroch durch den Spalt und stieß im nächsten Augenblick gegen Waelon. Der Blondschopf grinste sie verschmitzt an. „Wenn ich dir noch öfter den Arsch retten muss, dann verlange ich eine Medaille von dir."

Peyton rollte mit den Augen und schüttelte grinsend den Kopf. „Was hast du hier zu suchen? Ich habe dir die letzten Male schon gesagt, dass ich auch ohne deine Hilfe reinkommen kann. Wenn die Personenfahrzeuge losfahren, ist der Spalt im Garagentor für zehn Sekunden so breit, dass ich mich unten durch rollen kann."

„Ich weiß, ich weiß", nickte Waelon und gemeinsam schlichen sie sich durch die Halle, vorbei an zwei leerstehenden Lastern und betraten die Fließbandhalle. Auf großen Abladeflächen lag jegliche Art von Schrott und Gegenständen, die von Suchern in der Wüste gefunden und anschließend in einer Dekontaminationskammer gereinigt wurden, damit sie von den Arbeitern hier in der Firma durchsucht und kontrolliert werden konnten. Peyton und Waelon waren bisher immer an der gleichen Station eingeteilt gewesen und den Blondschopf mit seinen vier Fingern an der linken Hand hatte sie schnell ins Herz geschlossen.

Peyton erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sie Waelon kennengelernt hatte. An diesem Morgen hatte sie an dem Fließband gestanden und musste zusammen mit anderen und ihr fremden Arbeitern die Fließbänder reinigen und gegebenenfalls reparieren. Waelons imaginärer Magnet, der alles Pech anzuziehen scheint, hatte das Fließband zum Laufen gebracht...Naja. Waelons Mittelfinger ist in der Rille gelandet und musste schließlich abgenommen werden.

„Jetzt kann ich niemanden mehr mit meiner linken Hand beleidigen", hatte er sich eine Woche später bei Peyton beschwert, als sie gemeinsam in der Lagerhalle standen und Kartons und Materialien sortieren mussten. Seither waren sie befreundet.

Mit wachen Augen sah sich Peyton nach ihrem Boss Finch um, der das Sagen über diesen Fabrikhof hatte, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. „jetzt sag schon", drängte sie den Blondschopf und band sich eine Schürze um. „Was hast du dort gemacht? Und warum bist du so verschwitzt?" Ihre Hand fuhr durch die feuchten Haare ihres Gegenübers.

„Naja,", begann Waelon, „ich habe dich nicht gesehen und weil du die letzten Wochen schon so oft zu spät gekommen bist und er dir einige Male gedroht hatte, wollte ich dich suchen. Ich bin also nochmal zum Wohnheim gerannt, doch dort warst du auch nicht. Jedenfalls hast du nicht aufgemacht, als ich geklopft und geklingelt hatte."

Peyton starrte ihn ungläubig an. „Du bist nochmal bis zum Wohnheim gerannt?" Waelon nickte. Peyton entwich ein leiser Seufzer. „Ich mache früh meistens noch einen Abstecher in den Park, zwei Straßen weiter."

„Bald wohnst du noch im Park, wenn du immer so trödelst", mahnte Waelon, doch ein schelmisches Grinsen lag auf seinen Lippen.

Peyton schlug ihm gegen den Arm. „Halt die Klappe, Waelon. Ich werde bestimmt noch andere Möglichkeiten haben, außerdem hast nur durch mich gesehen."

„Falsch, Kleine! Ich habe dich auch gesehen und wenn ich noch öfter mitbekomme, dass du zu spät kommst, dann wird niemand von euch beiden auch nur einen Fuß auf das Gelände setzen können."

Das Grinsen wich aus den Gesichtern von Waelon und Peyton, als der dunkle Schatten von Finch auf sie hinab fiel. Er stand auf dem Laufgitter, das mit Treppen und Wegen über die Fließbänder hinweg führte. Der Mann hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte wütend auf die beiden Freunde hinab.

„Oh, Finch, wie gut, dass ich dich hier treffe", sagte Waelon und stand auf. „Ich wollte dich fragen, ob..."

„Halt die Klappe, Waelon. Du darfst die nächsten drei Wochen die Kabel an den Elektrogeräten lösen und farblich sortieren." Finch hatte den Jungen durch einen Stoß gegen den Brustkorb zum Schweigen gebracht. Dann wandte er sich an Peyton, ohne auf den fassungslosen Ausdruck in Waelons Gesicht einzugehen. „Und du, Kleine, mit dir habe ich noch ein paar ernste Wörtchen zu reden. Du kommst sofort mit mir ins Büro."

Peyton warf Waelon einen entschuldigenden Blick zu und trottete an ihrem Boss vorbei zu seinem Büro hin. Sie könnte von Glück reden, wenn ihr, wieder Mal, nur der Lohn gekürzt werden würde.

G E N - deltaDonde viven las historias. Descúbrelo ahora