Kapitel 11 - Die Flucht

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Es war keine bequemliche Fahrt, so viel stand schonmal fest. Ich hatte mich zusammen mit Lucifer in den nächstbesten Bus gesetzt und einfach eine Karte bis zur Endstation gekauft. Wir waren die meiste Zeit allein, was nicht gerade verwunderlich war. Es war unter der Woche, weshalb nur sehr wenige Betrunkene hinzu stiegen.

Ich sah schweigend aus dem Fenster. Wie merkwürdig. Ich hatte mich nie all zu wohl in dieser Kleinstadt gefühlt und doch fiel mir der Abschied schwer. Für immer war eine lange Zeit. Sollte ich es wirklich schaffen einfach nie wieder hier her zurück zu kommen? Ich sah noch zu, wie die Lichter der Stadt immer kleiner wurden, bis ich sie fast nicht mehr sehen konnte. Ich hatte das Bedürfnis "Lebewohl" oder irgend so etwas zu sagen, wie sie es in Filmen und Büchern immer taten, doch ich konnte mich einfach nicht dazu bringen.

"Du musst jetzt stark sein", Lu drückte meine Hand ein wenig fester. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass er mich noch immer fest hielt. Ich war froh, dass ich all das wenigstens nicht alleine durchstehen musste. Er war bei mir. Was hätte ich nur ohne ihn getan? Vielleicht wäre ich gleich zur Polizei? Oder vielleicht wäre ich einfach Hals über Kopf davon gerannt und wäre sofort geschnappt worden?

Doch weglaufen kam mir trotzdem irgendwie falsch vor.

"Lucifer", flüsterte ich, wobei es mir eigentlich egal war, ob der besoffene Typ ein paar Reihen vor uns, uns hören konnte, "was ist eigentlich vorher passiert?"

"Du meinst, bevor die ganze Sache eskaliert ist?"

Ich nickte. Wie nett von ihm es so zu formulieren und nicht zu sagen, dass ich gerade meinen Stiefvater kaltblütig ermordet hatte.

"Der Bastard hat geplant dich anzufassen. Ich habe gesehen, wie er deiner Mutter Schlaftabletten untergemischt hat", erklärte er mir mit einem so hasserfüllten Blick, dass ich beinahe Angst bekam weiter zu fragen.

"Und du hast nichts getan?"

"Doch", er seufzte, "ich hatte einen Plan ihn aufzuhalten."

"Und?"

"Es war zu spät. "

Am liebsten hätte ich ihn jetzt umarmt und ihm gesagt, dass alles gut war, doch es war nicht alles gut. Nichts war gut. Und eigentlich war doch ich das Opfer, oder?

"Hat er mich ver-", begann ich, doch er schüttelte schnell den Kopf.

"Nein. Ich habe dir geholfen ihn los zu werden, indem ich ihm in die Hand geschnitten haben", erklärte er mir, "den Rest, den du ja auch gesehen hast, warst alles du alleine.

"Gott", ich schloss meine Augen und lehnte ungläubig meinen Kopf in den Nacken, "ich kann mich an nichts erinnern."

"Wahrscheinlich so ein typisches Menschen-Ding. Das heißt glaube ich Dissoziative Amnesie."

"Verstehe...", eigentlich verstand ich nichts. Nichts von alle dem machte Sinn. Verdammt, nichts innerhalb der letzten Monate ergab einen Sinn! Ich saß hier, neben Lucifer, nachdem ich einen Mord begangen hatte... Wo genau sollte man einen Sinn finden? Er sollte gar nicht existieren. Ich sollte nicht weg rennen und in ein paar Wochen hätte ich meine Aufnahmeprüfung an der Filmhochschule geschrieben. Dann wäre ich Regisseurin oder so geworden und wäre weit weg von Mike gewesen. Hatte ich es wirklich nicht so lange abwarten können? Ich hatte mir so eben meine gesamte Zukunft ruiniert.

Tränen rannen leise meine Wangen hinunter.

"Hey", Lucifer legte seinen Kopf auf meine Schulter, "alles wird gut, versprochen. Sieh doch."

Verwirrt öffnete ich meine Augen. Durch die dreckige Fensterscheibe des Busses konnte ich den schönsten Himmel sehen, den es wohl gab. Die Morgenröte hatte den Fluss, den wir so eben überquerten, in ein wunderschönes rot getaucht und die Sonne, die nun in weiter Ferne aufging, wurde vom noch immer dunkel blauen Himmel umrahmt.

What's up, Lucifer?Where stories live. Discover now