20. Dornröschen und der Prinz ohne Krone

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Ich drehte mich im Halbschlaf. Die Bettdecke, die halb über meinem Körper lag, raschelte. Durch meine Augenlider drangen warme, helle Lichtstrahlen, die mich langsam wachrüttelten.

Murrend versuchte ich mich aus dem grellen Licht zu drehen, was sich als unmöglich erwies. Wieso musste die Sonne morgens so hell sein? Schließlich war der Sommer nahezu vorbei. Da könnte sich die Lichtstrahlenintensität am Morgen langsam abmildern.

Vorsichtig öffnete ich meine Augenlider. Zunächst lag die gesamte Umgebung in einem weißen Licht, bis sich meine Auge an die Helligkeit gewöhnten und das Bild langsam aufklarte.

Interessiert blinzelte ich einige Male, um meine Augen offen halten zu können, indessen ich mich im Raum orientierte. Ich lag in einem fremden, großen Bett mit schwarzer Bettwäsche. Das Zimmer war ähnlich zu meinem Zimmer im Studentenwohnheim aufgebaut. Allerdings waren die Möbeln dunkel und es war insgesamt wesentlich ordentlicher.

Mühesam richtete ich mich auf, um festzustellen, dass ich lediglich meine hautfarbene Unterwäsche von gestern trug.

Angestrengt rieb ich mir über die Stirn, um zu mir zu kommen. Dann machte ich mich müde auf die Suche nach einem Oberteil.

Auf dem Boden, vor der rechten Bettkante, entdeckte ich ein weißes Hemd, was, wie ich beim Anziehen feststellen musste, nicht meine Bluse war.

Was soll's.

Aufgrund der Größe würde mir das Hemd auf jeden Fall die Suche nach meiner Hose ersparen. Also zog ich es an und knöpfte das übergroße Hemd zu, welches mir knapp über den Po reichte.

Sofort umhüllte meine Nase ein allzu bekannter Geruch. Der dünne Stoff roch nach Nates herben Parfüme. Einen kurzen Moment sog ich den Geruch unauffällig ein. Merkwürdig wie vertraut sich allein der Geruch seines Parfüms anfühlte. Als würde ich ihn Ewigkeiten kennen.

Anschließend sah ich mich zum ersten Mal genauer in seinem Zimmer um. Gestern hatte ich kaum etwas hiervon wahrgenommen. Schließlich war es abends bereits ziemlich düster gewesen, mal ganz davon abgesehen, dass Nate und ich definitiv mit anderen Dingen beschäftigt waren, die meine volle Aufmerksamkeit gefordert hatten.

Neugierig ließ ich meinen Blick durch den kleinen, ordentlichen Raum schweifen. Das war also Nates Lebensraum.

Sein Zimmer war aufgeräumt, nirgendwo lag irgendetwas am falschen Platz, und ziemlich minimalistisch eingerichtet. Den Einrichtungsstil würde ich als klassisch beschreiben. Sehr persönlich oder besonders sah es zumindest nicht aus. An den Wänden hingen, im Gegensatz zu Drews Zimmer, welches ich schon davor zu Gesicht bekommen hatte, keine Plakate oder Fotos. Stattdessen waren sie komplett Weiß.
Die schwarzen Möbel wiesen kaum Gebrauchsspuren auf, mal vom Fehlen jeglichen Staubs abgesehen. Wie oft ging er bitte mit dem Staubwedel über die schwarzen Möbel, damit man wirklich keinen Krümel sehen konnte? Lediglich über seinem Schreibtischstuhl hing ein akkurat gefaltetes Sakko.

Der Schreibtisch war der einzige Ort an dem ich, neben zahlreichen aufgeschlagenen Ordnern mit komplizierten mathematischen Formeln, die ich im Leben nicht verstehen würde, ein einzelnes eingerahmtes Foto entdeckte. Die einzige wirklich persönliche Note, die ich in dem ganzen Raum erspähen konnte.

Natürlich konnte ich nicht widerstehen: Vorsichtig trat ich näher heran und nahm den Rahmen in die Hand. Auf dem Bild war Nate zu sehen. Er sah etwas jünger aus als es jetzt der Fall war. Neben ihm war eine braunhaarige, ältere Frau zu sehen, die liebevoll einen Arm um Nate legte und warm in die Kamera lächelte.

War das vielleicht seine Mutter?

Sie sahen sich so unfassbar ähnlich, dass sich ein wehmütiges Lächeln auf meine Lippen schlich. Sie teilten sich nicht nur die auffällige grüne Augenfarbe, sondern auch die Grübchen, die beim Lächeln hervorstachen. Sie hatten nahezu ein identisches Lächeln.

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