Kapitel 5

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Hannah stand einfach nur da und beobachtete Marlon, der sich durch die Leute drängte. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden, genauso wenig schaffte sie es, dass ihr Atem wieder einsetzte. Alles, was sie wahrnahm, war die Hitze, die ihr vor Aufregung in den Kopf stieg.

Das Stimmengewirr der Menschen überhörte sie völlig und so merkte sie auch nicht, als Nelo ihren Namen rief.

Erst als sie an ihrem Arm rüttelte, erwachte Hannah aus dem Zustand. Sie bemerkte, dass sie bloß noch ins Leere gestarrt hatte. Marlon war bereits verschwunden. Ebenso die ganzen Schaulustigen, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich über den Verderbnisbringer zu unterhalten, für den sie Marlon hielten. Wut keimte in Hannah auf.

Bevor Nelo sie aufhalten konnte, schritt sie auf Pibb zu und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.

»Was fällt dir ein?«, brüllte sie übertrieben laut und starrte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Sein Blick zeigte noch immer dieselbe Angst, die ihn seit dem Anblick des Mals beherrschte. Als ob er überhaupt ahnte, was es bedeutete. Er hatte keine Ahnung, nicht einen Funken davon. Er wusste nur, was seine Eltern ihm erzählten, doch sie waren genauso blind.

Pibb brauchte eine Weile, um zu merken, dass Hannah mit zornigem Gesichtsausdruck vor ihm stand. Noch nicht einmal die Ohrfeige schien er gespürt zu haben, obwohl sein gesamtes Gesicht durch die vorangegangene Schlägerei entstellt war.

»Was hat dir Marlon je getan, dass du ihn so bloßstellen musst?« Auch wenn sie seine Antwort kannte, hoffte sie auf eine Rechtfertigung seinerseits. Aber die blieb aus. Stattdessen rümpfte Pibb schmerzverzerrt die blutende Nase.

»Er bedeutet nichts Gutes. Das hat er noch nie.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute erhobenen Hauptes auf Hannah hinab. »Verteidige ihn besser nicht. Du kannst dir nicht ausmalen, was es für dich bedeuten würde, ihm zu helfen.« Er nickte mit dem Kopf in eine Richtung, um seinem Gefolge zu deuten, mit ihm zu gehen. Er ließ Hannah fassungslos alleine stehen.

»Du solltest dir nicht so viel aus Pibbs Spielchen machen. Er versucht nur, den Leuten Angst zu machen, um weiterhin die Macht zu behalten«, behauptete Nelo ruhig und zog ihre Nase angewidert kraus.

»Nein«, murmelte Hannah gedankenverloren. »Er hatte tatsächlich Angst.« Sie legte ihre Stirn in Falten und versuchte sich das Muster, das Marlon auf der Hand trug, ins Gedächtnis zu rufen. Täuschte sie sich, oder hatte sie ein solches bereits gesehen? Fieberhaft überlegte sie, weshalb es ihr so bekannt vorkam.

Pibb hatte von einem Drachenmal gesprochen, doch er hatte keine Ahnung, von was er redete. Allerdings konnte er in diesem Fall durchaus Recht behalten. Hannah konnte nicht ausschließen, dass es sich bei dem Symbol um ein Drachenmal handelte. Zwar kannte sie selbst nur Geschichten darüber, die ihr ihre Eltern einmal erzählt hatten, doch hatte sie noch nie eines gesehen. Umso mehr beschäftigte sie der Gedanke. Es kam ihr so bekannt vor. Die Linien, die die Silhouette eines der gefürchtetsten Wesen der Erde zeigten. Sie wurde das Gefühl nicht los, etwas Ähnliches bereits zu kennen.

»Nelo, wir reden später, ich muss wirklich los.« Sie schaute ihre Freundin nicht an, zu sehr war sie in Gedanken.

Schnellen Schrittes ging sie direkt nach Hause. Sie stürmte durch die Tür, und obwohl niemand da war, kündigte sie sich wie immer mit einem lauten Hallo an. Dass keiner antwortete, bestätigte ihr, dass sie ungesehen nach dem seltsamen Muster suchen konnte. Sie könnte schwören, es irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Sie wusste allerdings überhaupt nicht, wo sie anfangen sollte.

Rein intuitiv begann sie in dem kleinen Raum ihrer Eltern. Bereits als Kind war es ihr stets verboten gewesen, ihn zu betreten, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Was sie ausgerechnet jetzt hineinzog, war ihr selbst nicht klar.

Sie schien auf Anhieb richtig zu liegen. Sofort erkannte sie das Symbol in dem großen dunklen Wandteppich wieder und ein mulmiges Gefühl beschlich sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben dachte sie darüber nach, was ihre Eltern hier wohl vor ihr verstecken wollten.


Der GezeichneteWhere stories live. Discover now