Kapitel 19

513 57 0
                                    

Nachdenklich ließ Marlon die nackten Füße in den warmen See baumeln. Die leichten Wellen des Wasserfalls, der aus dem Nichts zu kommen schien, umspielten seine Knöchel. Er beobachtete das Notizbuch, wie es langsam immer tiefer sank.

»Was hast du getan?«, rief Fynn außer sich. »Das sind die wahrscheinlich echtesten und unmittelbarsten Aufzeichnungen über Drachen, die es auf dieser Erde noch gibt! Und du wirfst sie einfach ins Wasser.« Verzweifelt lief er am Ufer auf und ab, überlegte fieberhaft, was er unternehmen konnte. Aber es war verloren.

Marlon hatte es zerstört und das fühlte sich richtig an. »Olaf hat es mir geschenkt, ich kann also damit anstellen, was ich will«, rechtfertigte er sich, obwohl er das eigentlich nicht musste. Er durfte mit seinem Eigentum umgehen, wie er es für angemessen hielt und gerade war es genau das, was sich gut anfühlte.

Fynn verstand ihn nicht, weil ihm das Wissen viel zu wichtig war. Doch am Ende hätte es Marlons Bild von seinem Vater zerschlagen. Zwar hatte er keine Erinnerung an ihn, dennoch wollte er nicht erfahren, wie unwichtig er ihm gewesen war. Er stieß einen Kieselstein in den klaren See, um zu beobachten, wie dessen Wellen gegen die des Wasserfalls ankämpften.

Seufzend hievte er sich auf. »Ich bin mir sicher, alles was darin stand, kann uns Andalie früher oder später genauso erzählen. Das heißt, wenn sie denn einmal mit uns redet.« Er schaute sie herausfordernd an, aber von ihr kam keinerlei Reaktion.

»Das Buch war sein Lebenswerk, bedeutet dir das etwa gar nichts?«, brüllte Fynn ihn an.

Das war der Moment, in dem Marlon beschloss, zu gehen. Nicht für lange und auch nicht weit. Allerdings wollte er sich keinesfalls anhören müssen, welch schrecklichen Fehler er begangen hatte. Andalie würde ihn ohnehin nicht verteidigen, sie wollte ja nicht sprechen. Es war der erste Augenblick in diesem Tal, in dem er sich allein wohler fühlte, also ging er ohne ein Wort weg.

Fynn rief ihm hinterher und Andalie hob den Kopf, aber er ließ sich nicht aufhalten. Viel zu lange war er nur herumgesessen und hatte die Zeit verstreichen lassen. Nun wollte er endlich mehr von dem Tal sehen. Es war ein so magischer Ort, da wäre es schade, bliebe er unentdeckt.

Eine Weile lief er, ohne sich umzudrehen. Er glaubte kaum, dass ihm einer der beiden folgte, was ihn zwar erleichterte, allerdings auch enttäuschte. Sie ließen ihn einfach gehen.

Er verwarf jeglichen Gedanken daran und wanderte noch ein Stück bis zu einem Felsvorsprung, hinter dem sie ihn unmöglich sahen. Erst dann blieb er stehen und hatte die Möglichkeit, sich umzusehen.

Er befand sich in einem Durchgang zwischen zwei steilen Felswände. Er war sehr breit und selbst hohe Bäume fanden in ihm Platz, dennoch war es ein beklemmendes Gefühl, darin eingesperrt zu sein.

Marlon fragte sich, wohin die Passage führte. Sie zog sich in Schlangenlinien entlang, er konnte also nicht gerade hindurchsehen. Große Felsbrocken, die von den Klippen gestürzt waren, versperrten die Sicht und verengten den Durchgang.

Obwohl der Himmel noch immer strahlendblau war und die Sonne herab brannte, war es dunkel und ein pfeifender Wind durchzog den Gang. Es war, als versuchte der Weg um jeden Preis, Marlon davon abzuhalten, hindurchzugehen. Als arbeitete die gesamte Natur zusammen, um unerwünschte Gäste fernzuhalten.

Während das Tal von bunten Blumen und der warmen Wiese überwuchert war, gab es hier kahle Stellen am Boden, unter denen Gestein sichtbar wurde. Anstatt der lieblich zwitschernden Vögel hörte man nur gierige Krähen, und wenngleich die Bäume ebenso grün waren, wirkten sie düster und gefährlich.

Mit einem Mal vergaß Marlon seine Abenteuerlust. Er hatte keine Ahnung davon, was sich am Ende der Gasse befand und hatte eigentlich auch wenig Lust, es herauszufinden.

Der GezeichneteWhere stories live. Discover now