Kapitel 15

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»Es ist schon komisch, dass sie zu Anfang Angst vor mir hatte, findest du nicht?«, überlegte Marlon und streckte seine Füße in den Teich, der bunt in der Sonne glitzerte.

Er nahm sich endlich Zeit, das Tal zu betrachten. Die ganze Aufregung um Andalie hatte ihn vergessen lassen, wie wunderschön hier alles aussah. So unangetastet und neu. Zwischen den hohen Felswänden, die weiter entfernt steiler wurden, blühten die ungewöhnlichsten Blumen und ragten seltsame Bäume in den Himmel. Pflanzen, die er nie zuvor gesehen hatte und die auch Fynn größtenteils fremd waren.

»Ja, sehr komisch«, stimmte dieser ihm nachdenklich zu und drehte sich zu dem Drachen um, der nur wenige Schritte hinter ihnen im Gras schlief. Ihre Erschöpfung war noch immer zu groß, um sich wach zu halten.

Inzwischen hatte auch Fynn sich daran gewöhnt, die meiste Zeit bei ihr zu verbringen. Jeden Tag kam Marlon nach getaner Arbeit in der Schmiede ohne zu warten her. Es hatte keine weiteren Aufruhre in Dronar gegeben, nachdem er zurückgekehrt war. Allerdings weigerte er sich auch, weiter als bis zur Schmiede zu gehen. Die wenigsten wussten von seiner Rückkehr.

»Normalerweise kennen Drachen keine Gefühle«, bemerkte Fynn und schaute Marlon prüfend an. »Du bist dir also sicher, ihre Angst wahrgenommen zu haben?«

»Absolut. So deutlich, wie ich meine eigenen Gefühle spüre.« Er verharrte auf seinem Standpunkt, selbst wenn er sich selbst langsam unsicher wurde. Wie war es möglich, dass ihn bei der kleinsten Berührung ihre intensiven Emotionen überfluten, wenn das ungewöhnlich für diese Wesen war? Jede Berührung ließ ihn offenbar alles fühlen, was auch Andalie fühlte. Es war schwer, sich daran zu gewöhnen. »Vielleicht ist sie eine Ausnahme?«, mutmaßte er und drehte sich ebenfalls um.

Fynn schüttelte den Kopf. »Gerade als Urdrache sollte sie keinerlei Gefühle besitzen. Sie ist die Herrscherin der Lüfte, es wäre unverantwortlich, wäre sie subjektiv. Es sei denn...« Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und musterte Andalie dabei durchdringend.

Marlon legte sich in das Gras und betrachtete den strahlendblauen Himmel. Er wusste nicht, wie lange sie sich bereits hier aufhielten, doch es war beinahe schade, bisher noch nicht mehr von dem Ort erkundet zu haben. Es war so aufregend und es gab so vieles zu entdecken. Marlon nahm sich vor, mit Andalie gemeinsam das gesamte Tal zu erforschen, sobald sie wieder gesund war.

Sie sah so friedlich aus, wenn sie schlief. Man konnte sich tatsächlich nicht vorstellen, dass sie und der Brak'dag Monsa derselben Art angehörten. Sie war ganz anders als er. Wenngleich Marlon den Drachen der Erde verabscheute, einfach deshalb, weil er Hannah Leid zufügen wollte, waren seine Gefühle für Andalie das komplette Gegenteil.

Hannah. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er sie seit Tagen nicht gesehen hatte. Aber er vermisste sie komischerweise nicht.

Er seufzte tief und schloss die Augen. Zu gern wäre er sich darüber im Klaren, was hier vor sich ging. Wie konnte er den einen Drachen so sehr verachten und den nächsten stets an seiner Seite wissen wollen? Und das, obwohl er bis vor einigen Tagen noch nicht einmal von ihrer Existenz gewusst hatte?

Er setzte sich auf, als er an Andalies Atmung erkannte, dass sie aufwachte. Er holte die Beine aus dem Wasser und stellte verwundert fest, dass sie überhaupt nicht nass waren. Die Magie dieses Ortes war für ihn unbegreiflich. Ihm waren schon mehr seltsame Dinge aufgefallen. Wenn er einen Grashalm pflückte, so wuchs dieser sofort nach, und nicht nur die Schmetterlinge, auch die Blumen wechselten beinahe unmerklich ihre Farben. Sie glichen sich stets dem Farbenspiel des Himmels und der Sonne an. Gerade funkelten sie alle strahlendblau und gelb.

Er ging auf Andalie zu, wollte bei ihr sein, wenn sie die Augen öffnete. Für einen kurzen Moment schien sie das sogar zu freuen, doch dann verdüsterte sich ihr Blick erneut. Noch immer verabscheute sie seine Anwesenheit – gleichermaßen wie sie ihr gefiel.

Der GezeichneteWhere stories live. Discover now