Kapitel 24

349 54 2
                                    

Kaum kam sie Zuhause an, kramte Hannah die alten Waffen heraus, die sie in der staubigen Kiste gefunden hatte. Mit zitternden Händen griff sie nach der Armbrust der Wiederkehr. In einem der Bücher wurde diese als Beginn des Zeitalters der Jägerkults angekündigt – das erschien ihr für den Anlass passend. Außerdem war sie eine der jüngsten Waffen, die meisten anderen, waren inzwischen viel zu alt, um sie nochmal zu verwenden.

Hektisch blätterte sie durch die Schriften und suchte nach Hinweisen, wie man einen Drachen tötete.

Sie erkannte sich selbst kaum wieder. Ihr Wille war eisern, so sehr hatte sie noch nie etwas in ihrem Leben gewollt. Sie musste Brak'dag Norja töten. Nicht nur, um Marlon zurückzubekommen.

Marlon. Gerade bezeichnete er sie noch als seine Freundin und dann...

Dieses Biest trübte seine Sinne, seine Gefühle. Sie musste es tun. Außerdem war sie sicher, der Erddrache verzieh es ihr niemals, wenn Norja überlebte. Und das bedeutete ihren eigenen Tod. Ihr blieb also keine andere Wahl.

Ein letztes Mal überflog sie die Zeilen ihrer Vorfahren und überprüfte, ob die Ampulle mit dem Blut noch um ihren Hals hing.

Bevor sie ging, schloss sie die Augen und atmete tief durch. Jeden Schritt plante sie genau. Sie sah bereits vor sich, wie sie auf den Luftdrachen zielte.

Kurz bevor sie vor ihrem inneren Auge den Auslöser drückte, schreckte sie auf. Ihr Puls hatte sich merklich beschleunigt. Es war nicht nur Angst. Dort war ebenfalls ein bisschen Vorfreude.

Wie in Trance folgte sie dem Weg ins Tal. Selbst wenn sie in ihrem Kopf die Situation immer wieder abspielte, war ihr noch immer nicht bewusst, was sie tat. Dass sie tatsächlich auf dem Weg war, einen Drachen zu töten.

Die Sonne war inzwischen komplett verschwunden. Hannah trotzte der Dunkelheit und all den unheimlichen Geräuschen. Nichts konnte schrecklicher sein als das, was sie vorhatte. Noch lag der Gedanke daran fern, aber mit jedem Schritt, wurde er greifbarer und furchteinflößender.

Sie war wie ausgewechselt. Sie merkte, wie ihr Blut bis in die Ohren pochte. Irgendwas in ihr freute sich bereits darauf, abzudrücken, auch wenn der bloße Gedanke abstoßend war.

Doch sie war nicht mehr das liebe Mädchen aus Dronar. Sie war eine von ihnen. Das war sie schon immer gewesen und das merkte sie jetzt. Es war ihre Bestimmung, das Erbe ihrer Vorfahren zu tragen.

Diesmal fand sie das Tal schneller, als sie es erhofft hatte. Sie war mit dem Vorhaben zu töten noch lange nicht vertraut. Allerdings blieb ihr nichts anderes übrig. Sie musste es tun, bevor Marlon zurückkam. Sobald er in der Nähe war, brächte sie es niemals übers Herz.

Sie wusste nicht einmal, ob sie überhaupt in der Lage dazu war, mit der Armbrust umzugehen. Was, wenn sie Brak'dag Norja ausschließlich verwundete? Was, wenn ein Bolzen nicht reichte? Oder, wenn sie plötzlich in das Visier des Drachen geriet?

Langsam und bedacht, kein Geräusch zu machen, ging sie um die Klippen herum. Sie suchte nach einem sichtgeschützten Ort, von dem aus sie ohne Probleme auf den Drachen der Luft zielen konnte.

Norja lag an dem kleinen See und ließ völlig nichtsahnend ihren prächtigen Schweif darin baden. Im Mondschein wirkte sie noch magischer, doch das durfte Hannah nicht aufhalten. Selbst das friedliche Antlitz, während sie schlief, durfte sie auf keinen Fall von ihrem Plan abbringen. Es stand zu viel auf dem Spiel. Ihr eigenes Leben und das von Marlon. Jetzt war sie schon so weit gekommen, es wäre eine Schande, nun aufzuhören. Ihre Vorfahren würden sie für immer verstoßen, wenn sie die Chance ungenutzt ließ. Es war fast, als beobachteten sie jeden Schritt genau, obwohl sie bereits seit langen Jahren gestorben waren.

In den Büchern fanden sich unzählige Geschichten über sie. Drachenmörder. Widerwärtige Kreaturen, die gegen die Natur arbeiteten. Und nun wurde sie eine von ihnen.

Zweifel änderten jedoch nichts daran. Sie musste es tun. Sie wollte es tun. Sie hatte keine Wahl.

Mit viel zu viel Schweiß an den Händen legte sie die Armbrust an. Das Zittern ihrer Finger hinderte sie daran, problemlos zu zielen. Sie versuchte, sich auf dem steinigen Boden abzustützen, um etwas besseren Halt zu finden. Kiesel rollten mit knackenden Geräuschen vom Vorsprung und Hannah hatte Angst, das könnte den Drachen wecken.

Doch sie rührte sich nicht.

Endlich hatte Hannah sie im Visier. Sie zielte auf den Hals. Der beste Angriffspunkt neben dem von weichen Schuppen bedeckten Bauch, wie sie aus den alten Aufzeichnungen erfahren hatte. Diesen schützte Brak'dag Norja allerdings mit ihren Beinen.

Sie zwang sich, die Hände ruhig zu halten und konzentrierte sich auf die Stelle, die sie treffen wollte. Beim kleinsten Zucken ihres Fingers würde sie den Bolzen mit einer enormen Geschwindigkeit auf den Drachen anschießen.

Und gerade, als sie diese kleine Bewegung durchführen wollte, schlitterte Marlon die Klippen hinab und direkt auf Brak'dag Norja zu.



Der GezeichneteWhere stories live. Discover now