Kapitel 7

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Bevor er den Waldrand erreichte, hörte er Schreie. Marlon hetzte völlig außer Atem weiter. Er fühlte sich verantwortlich. Weshalb er die Schuld auf sich nahm, wusste er nicht genau. Er glaubte, der Drache war nur wegen ihm hierhergekommen. Und nun musste er alles versuchen, um die Bewohner seiner Heimat zu retten – auch wenn es lange keine Heimat mehr für ihn darstellte.

»Was hast du vor?«, rief Fynn entsetzt. Er suchte den Himmel nach dem Drachen ab, der allerdings befand sich längst aus ihrer Sichtweite.

»Ich muss ihnen helfen!« Marlon hatte Mühe zu sprechen. Er konnte kaum atmen, sein Hals war viel zu trocken. Dass seine Beine beinahe vor Schmerzen nachgaben, beachtete er gar nicht.

»Du willst die Menschen retten, die dich dein Leben lang beschimpft haben?« Fynn klammerte sich an Marlons Hemd, um nicht den Halt zu verlieren und raus zu fallen. »Wie willst du das anstellen? Du kannst es wohl kaum mit einem jahrtausendealten Vieh aufnehmen. Er wird dich zerschmettern.«

»Dann soll er das tun«, sagte Marlon fest entschlossen. Er wusste, dass Fynn recht hatte. Doch er durfte sie keinesfalls im Stich lassen. Schon gar nicht Olaf oder Hannah. Selbst wenn es fast niemanden in Dronar gab, der ihm etwas bedeutete, wollte er ebenso wenig verantwortlich für ihrer aller Tod sein. Bis er bei dem Drachen ankam, fiel ihm bestimmt irgendwas ein.

Die Schreie der Dorfbewohner mischten sich mit dem Kreischen in Marlons Kopf. Beinahe wie ein Echo klang es nach. Er versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren und sich auf das Ziel zu fixieren. Am wichtigsten war es, zu kämpfen. Direkt danach stand das Überleben. Er ließ sich auf keinen Fall von Fynn abbringen, der endlos auf ihn einredete.

»Ehe wir dort sind, wird es bereits zu spät sein«, wollte er Marlon zur Vernunft bringen, doch der rannte weiter.

»Es nicht zu versuchen, wäre Verrat.«

»Verrat an Menschen, die auch dich verraten haben.«

»Und Verrat an Freunden!«, rief Marlon und Fynn wurde still. Er bemerkte, dass er nichts ausrichten konnte, selbst wenn er weiterhin nicht überzeugt von der Idee war. Diese Tatkraft hatte ihn schon immer ein wenig verwirrt. Während Marlon zuerst handelte, bevor er darüber nachdachte, tat Fynn nichts, ohne gründlich jede mögliche Folge zu bedenken. Und die einzige logische Folge, die es auf diese Aktion gab, war der Tod.

»Ich werde dich an der Schmiede absetzen«, keuchte Marlon. Er wollte seinen besten Freund keinesfalls gefährden, selbst wenn er glaubte, ein Igel besaß weitaus größere Chancen zu entkommen, als ein Mensch. Zwar schüttelte der heftig den Kopf und protestierte, er wolle Marlon beistehen, dennoch konnte er nichts dagegen unternehmen, als dieser ihn von dem Hemd heraushob.

»Und bleib hier in Sicherheit, ist das klar?«, tadelte er noch und lief dann, ohne eine Antwort abzuwarten, los.

Schon von weitem sah er den Drachen. Er stand über den Dächern des Dorfes und verwüstete alles, was ihm in die Quere kam. Seine Schreie waren unerträglich laut und in Marlon zog sich alles zusammen. Immer wenn er sein Maul aufriss, entblößte er scharfe Reißzähne. Und parallel zu seinen Schreien, brüllte ebenso der Drache in Marlons Kopf.

Menschen hetzten ihm entgegen. Einige schienen verletzt, die meisten verängstigt und panisch. Sie schleppten sich an Marlon vorbei, ohne ihn überhaupt anzusehen. Ihre Augen waren einzig und allein auf ihr Ziel gerichtet: die Sicherheit des Waldes.

Unter all den Flüchtenden suchte Marlon nach Hannah – vergeblich. Auch Olaf entdeckte er nirgendwo, noch nicht einmal, als er immer weiter zu dem Vieh vordrang.

Er schob sich durch die Menschen hindurch, die ihm hilflos entgegenrannten. Unter ihnen Pibb – aber das war kein Wunder. Er wäre der Letzte, der sich einem Kampf stellen würde. Schon gar nicht gegen einen Drachen.

Der GezeichneteWhere stories live. Discover now