Kapitel 11

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In der Ferne glaubte Marlon, Hannahs Stimme wahrzunehmen. Sie rief nach ihm, ruhig und sanft. Sie lachte. Ein wunderschönes Lachen, das alles um ihn herum hell erstrahlen ließ.

Gern wäre er ihren Rufen gefolgt, aber sein Körper rührte sich nicht. Er gehorchte nicht seinen Befehlen und langsam beschlich ihn ein Gefühl von Panik. Er wollte zu ihr, sie in die Arme schließen, aber es war ihm unmöglich, sich zu bewegen, so sehr er es auch versuchte. Er wollte bei ihr sein, zumindest ein letztes Mal.

Dann verstummte ihr Kichern und wurde durch aufgeregtes Flüstern ersetzt. Menschen, die wild durcheinanderredeten. Ein Stimmengewirr, aus dem er kein Gespräch herauskristallisieren konnte. Sie murmelten und brüllten gleichzeitig so laut, dass Marlons Kopf schmerzhaft zu pochen begann.

Alles um ihn herum war schwarz, er sah rein gar nichts. Die Geräusche beunruhigten ihn. Obwohl für gewöhnlich zusätzlich zu den Stimmen auch Bilder aufflammten, blieb diesmal alles dunkel.

Marlon zwang sich dazu, die Augen zu öffnen, wenngleich er lieber wieder in seine Träume mit Hannah versank.

Als er blinzelnd die Lider hob, stellte er fest, woher die Laute tatsächlich kamen. Nun bemerkte er auch den holprigen Waldboden, über den sie ihn unachtsam in einem Karren umher zerrten. Schemenhaft erkannte er ihre Gestalten aber selbst jetzt war es ihm nicht möglich, ihr Flüstern zu verstehen.

Als er versuchte, sich zu rühren, bemerkte er fest zugeknotete Seile um seine Knöchel. Sie schabten bei jeder Bewegung schmerzhaft an seiner Haut. Er schaffte es nicht, sich aufzusetzen. Er war gezwungen, durch die Baumkronen hindurch in den Nachthimmel zu starren. Ein Anblick, der ihn vor einigen Tagen noch aufgeregt wach gehalten hätte. In wenigen Stunden hätte er Hannah getroffen – wäre nicht alles anders gekommen.

Pibb merkte als erstes, dass er aufgewacht war. Er ließ sich zurückfallen und grinste höhnisch von oben herab. Nun konnte er sich tatsächlich einmal größer fühlen – allerdings rein körperlich. Im Geiste war er noch immer so klein und unbedeuten. Eine Kakerlake, die sich an den Essensresten anderer labte. Oder an deren Leid.

»Gut geschlafen?«, fragte er ohne jedes Interesse und stieß seinen Spaten gegen den Karren, um Marlon darin herumzuschütteln. Der jedoch schaute Pibb gar nicht an, versuchte, eine unerschütterliche Miene aufzusetzen. Eine, die ihm zeigte, wie gleichgültig ihm die Situation war. Doch der Frust ließ sich nur schwer verbergen.

Pibbs Grinsen wurde breiter. »Bindet ihn los«, befahl er seinen Handlangern. »Er soll vorangehen.«

Sie taten sofort, wie ihnen geheißen. Ohne zu hinterfragen, ohne zu murren. Sie waren Pibbs Spielzeug, nichts als seine Marionetten. Sie taten bestimmt alles für ihn, weil sie blind genug waren, ihm zu vertrauen.

Sie durchtrennten die Seile an Marlons Gelenken. Dass sie seine Haut ebenso aufschlitzten und blutende Wunden hinterließen, interessierte sie nicht.

Einer von ihnen hob den Wagen an einer Seite an, sodass Marlon auf den kühlen Waldboden fiel. Der Schmutz, der dadurch in die frischen Schnitte gelang, brannte wie Feuer. Er verzog kurz schmerzverzerrt sein Gesicht, hievte sich dann aber auf und suchte Halt an einem Baum.

Die Leute beobachteten ihn abwartend. Einige der provisorischen Waffen waren direkt auf ihn gerichtet. Wovor sie sich fürchteten, war ihm unklar. Immerhin trug er keine Waffe und durch das Drachenmal alleine wurde er nicht gleich zu einem Monster.

Das schienen die Menschen allerdings anders zu sehen. Alle außer Pibb betrachteten ihn voller Furcht. So, als konnte er jeden Moment alles um sich herum in Schutt und Asche legen.

Marlon hob abwehrend die Hände, um ihnen zu zeigen, dass von ihm keine Gefahr ausging, aber beim Anblick des Mals wichen sie einen Schritt zurück.

Der GezeichneteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt