6 - Held oder Gaffer?

24.1K 2K 470
                                    


Ich trug das einzige Kleid, das ich besaß. Es war knielang und hatte mehr Blumen als Aufdruck, als wir in unserem Garten.

„Sag mal, hast ein Date?", fragte Fabian, der mir im Flur über den Weg lief, als ich das Haus verlassen wollte.

„Wie kommst du da drauf?"

Er lachte lässig, während er die Hände cool in den Taschen hatte. Die Pubertät war ein Teufelszeug. Ich hasste es, dass sie aus meinem kleinen süßen Bruder ein hormongesteuertes Monster gemacht hatte, das sich mit zwölf Jahren schon als Weiberheld sah.

„Du hast ein Kleid an und deine Haare vorhin geföhnt. Das machst du sonst nur zum Dorffest oder aber, wenn du ein Date hast."

Ertappt.

„So ein Quatsch", stritt ich es jedoch ab. „Warum müssen Jungs immer denken, dass man sich nur für sie hübsch macht? Vielleicht habe ich ja auch einfach ein Kleid angezogen, weil ich mich schön finden möchte. Einfach nur für mich!"

Fabian legte seinen Kopf schief und schien mir kein Wort zu glauben.

„Ist klar. Und ich mühe mich auch jeden Abend mit Liegestützen ab, um mich an meinem Spiegelbild zu erfreuen? Wer es glaubt! Alles, was mit Aussehen zu tun hat, machen wir für andere." Für einen Zwölfjährigen waren das ziemlich philosophische Worte. „Aber falls es dich interessiert: Du siehst gut aus. Dein Date wäre dumm, wenn er dir einen Kuss verwehrt!"

Ich konnte nicht verhindern, dass ich darüber glücklich schmunzelte.

„Ach halt die Klappe!", sagte ich liebevoll und verschwand aus der Tür.

Von Henseberg waren es nur 10 Minuten zu Fuß bis zum Schloss Straußburg. Wieder dämmerte es, was der Landschaft einen romantischen Touch gab. Die Felder glänzten im goldenen Schimmer, der See glitzerte wie ein Gletscher und der Wald könnte die Kulisse für einen Rotkäppchenfilm sein. Manchmal hatte ich solche Momente, in denen ich die Schönheit meiner Umgebung wahrnahm. Im Alltag ging das für gewöhnlich unter.

Die Luft war frisch, sodass ich meine Jeansjacke über dem Kleid trug. Dem Dresscode des Internats entsprach das wohl nicht, aber ich hatte leider nicht für jedes Kleidungsstück die passende Jacke. Und auch nicht die passenden Schuhe, weshalb es die Billig-Fake-Chucks auch tun mussten. Jede Fashionista würde wohl einen Schrei- oder Heulkrampf bekommen.

Ich spürte ein Kribbeln in meinem Bauch und war mir nicht sicher, ob das vor Aufregung oder vor Verliebtheit war. Vielleicht gab es da aber auch gar keinen Unterschied.

Ich sah Nils schon von Weiten auf der Bank sitzen. Er sah sich um und es dauerte nicht lange bis er mich erblickte.

„Wieso kommst du aus der Richtung?", fragte er mich.

Mein Herzschlag setzte kurz aus. Ich hatte gar nicht bedacht, dass das auffällig sein könnte. Eigentlich hätte ich aus dem Essensaal kommen sollen.

„Ich war noch beim Kiosk", versuchte ich mich aus der Affäre zu ziehen.

„Und hast nichts gekauft?", fragte er misstrauisch, aber nicht unfreundlich. Ich hatte nicht mal eine Tasche dabei und stand mit leeren Händen vor ihm.

Ich schüttelte nur den Kopf, weil mir keine Ausrede einfiel, die erklärte, warum ich fast zwei Kilometer weg auf mich nahm, ohne dann etwas zu kaufen.

„Ich war neulich mit Freundin da und die Frau da ist echt unfreundlich. Ich war auch kurz davor gewesen einfach wieder zu gehen", berichtete er.

Wenn er nur wüsste, wer diese unfreundliche Frau war und vor allem, dass ich die Hälfte ihrer Gene in mir trug.

Secret LoveWhere stories live. Discover now