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Ich wache ausgeruht genau um 20:00 Uhr auf. Wie immer. Wieder ziehe ich mich an, wieder gehe ich genau in dem Moment aus dem Haus als die Familie heim kommt.

Ich werde die eines Tages auch noch als meine Blutspender nutzen, denke ich leicht genervt und laufe dann wieder zum Kneipenviertel.

Mal sehen was heute für Gestalten unterwegs sind.

Seltsamerweise zieht es mich in die Kneipe von gestern, ich werde mein Glück einfach noch einmal hier versuchen. Auch wenn das ein wenig Riskant sein kann, wenn zwei Leute innerhalb kürzester Zeit bei der gleichen Kneipe verschwinden. Ich seufzte und nehme mir vor, heute etwas vorsichtiger zu sein.

Ich wurde schon öfters knapp erwischt, doch konnte immer fliehen oder Verwirrung stiften.

Als ich meinen ersten Brandy gerade beende, setzt sich jemand neben mich, der sofort meine ungeteilte Aufmerksamkeit erlangt.

Für einen kurzen Moment denke ich, mein totes Herz bleibt stehen.

Blonde Haare. Das Lächeln. Die blauen Augen.

Dieser Junge erinnert mich schmerzvoll an eine mir wichtige Person. Mats

Ich mustere ihn immer noch wie erstarrt, als mir kleine Unterschiede auffallen.

Seine Haare sind etwas heller, sei Lächeln ist sorgloser, fröhlicher. Doch seine Augen haben wirklich die selbe Nuance an Babyblau wie Mats. Ich schlucke.

Wie kann ein Mensch ihm so ähnlich sehen?

Als ich die Stimme des Jungen höre, fällt mir der größte Unterschied zu Mats auf. Die Stimme ist nicht so rau, sie klingt freier, jünger und etwas heller.

Sein Geruch zieht mich ebenfalls in einen Bann, er riecht frisch, wie ein lang erwarteter Sommerregen. Ich weiß nicht warum, aber ich verspüre eine ungewohnte Regung in mir. Ein Gefühl. Hoffnung.

Woher kam das jetzt?

Irgendwann bemerkt er mein Starren und schaut mich an. Er zieht fragend eine Augenbraue hoch und neigt seinen Kopf leicht zur Seite.

"Kann ich dir helfen?" fragt er mich mit der größten Unschuld und ich schüttele den Kopf. Doch dann ändere ich meine Meinung und nicke. Der Junge schaut mich immer noch fragend an, als mir auffällt dass ich ihm immer noch keine klare Antwort gegeben habe.

"Wie heißt du?" frage ich ohne groß nachzudenken.

Der Junge grinst, sein unschuldiger Blick verschwindet sofort.

"Warum willst du das wissen? Solltest du mich nicht erst einmal auf einen Drink einladen?"

Ich runzelte die Stirn. Ich bin noch nie so einem schlagfertigem Menschen begegnet.

"Solltest du nicht heim? Kinder dürfen um diese Uhrzeit nicht mehr in solchen Gegenden unterwegs sein" gebe ich ziemlich trocken zurück.

"Unterschätze mich nicht" grinst er zurück und bestellt dann eine Jacky Cola, mich ignorierend.

Ein kleiner, irritierter Funken durchzuckt mich, wieder etwas was ich jahrelang nicht gespürt habe und ich drehe mich zum Barkeeper um, der mir gerade einen zweiten Brandy hinstellt.

Was soll das? Denkt dieser Junge er kann hier den Boss spielen? Weiß er nicht mit wem er sich anlegt?

Sein Charakter entspricht schon mal gar nicht dem von Mats. Er ist viel frecher, schlagfertiger und vorlaut. Genau das Gegenteil von Mats. Ich schüttele den Kopf und werfe noch mal einen Blick zu ihm. Er trinkt fröhlich seine Jacky Cola und unterhalten sich mit dem Barkeeper, der ihn auch zu kennen scheint.

Warum irritiert er mich so?

Ich finde keine Antwort auf die nagenden Fragen und bestelle mir gleich einen dritten Brandy. Dann schaue ich auf die Uhr, gerade einmal halb zwei. Seufzend richte ich meinen Blick auf die Tischplatte, ich sollte mir noch was zum Essen besorgen auch wenn ich noch keinen Hunger verspüre.

Eine Bewegung fängt meinen Blick, ich drehe mich genau in dem Moment um, als der Junge aufsteht und sich vom Barkeeper verabschiedet. Ich folge ihm mit meinem Blick bis zu Tür.

Dann dreht er sich um und zwinkert mit kurz zu, ein Grinsen auf den Lippen.

Ich wirbele herum, sofort in mein Glas starrend. Dieser Mensch irritierte mich maßlos und ich konnte nicht mehr ruhig sitzen.

Wütend auf mich selber stehe ich auf, lege ein wenig Geld ab und verschwinde dann auch. Ich weiß dass ich jetzt nicht mehr jagen kann, ich bin zu unaufmerksam, ich würde nur einen dummen Fehler machen und die Aufmerksamkeit der Stadt auf mich ziehen. Wie mir schon einmal gelungen ist.


1894

Das Gegröle der betrunkenen Matrosen hallte durch die Straßen, meine Schritte verlangsamen sich jedoch nicht.

Hektisch suchte ich eine Gasse in die ich fliehen konnte, doch hier war alles voller Menschen, alle betrunken, alle bereit, ein wenig Spannung zu erleben.

Ich fluchte leise, ich musste weg von hier. Ich war einer der meist gesuchten Männer in England. Nur weil ich einen wichtigen General getötet hatte und mich dabei leider jemand erwischt hatte.

Ich war nur unkonzentriert und leichtsinnig.

Ein Ruf ertönte und riss mich aus meinen Gedanken. Meine Schritte beschleunigten sich wieder, schneller durfte ich nicht werden, sonst würde man meine Unmenschlichkeit erkennen. Ich fand endlich eine schmale, von Fisch stinkende Gasse und entwischte meinen Verfolgern.

Langsam und lautlos suchte ich mir einen Weg durch die engen Schluchten des Hafens, bis ich eine spärlich besuchte Straße fand.

Ich klopfte mir den Dreck von meinen Hosen ab und nahm den störenden Zylinder von meinem Kopf. Der Modegeschmack entsprach auch nicht ganz meinen Vorstellungen, doch es würden noch andere Zeiten kommen, dessen war ich mir sicher.

Und eines anderes war ich mir auch sicher. Ich musste weg. Raus aus England.


2015

Ich schlage die Tür laut zu, mich nicht darum kümmernd ob ich Nachbarn hatte, die wahrscheinlich gerade vor Schreck aus den Betten gefallen sind.

Immer noch wütend gehe ich ins Bad, meine Haare sind etwas zerzaust weil ich den Weg nach Hause gerannt bin.

Ich bin wütend, weil ein Mensch, ein einfacher Mensch es gewagt hatte, mir so frech zu antworten. Normalerweise hielt schon meine Ausstrahlung Menschen davon ab, doch bei ihm war das nicht der Fall gewesen.

Und dann bin ich noch wütend, weil ich nichts Gescheites zum essen bekommen habe. Es passiert nichts, wenn ich mal ein paar Tage nichts zu mir nehme, aber meine Laune bessert sich nicht wirklich.

Seufzend gebe ich es auf, mein Haar zu bändigen, und steige in die Dusche, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Morgen werde ich im zeigen, wo der Hammer hängt.

Numb (Boy x Boy)Where stories live. Discover now