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Die ersten Strahlen der blassen Morgensonne kitzeln den Horizont, doch ich kann mich nicht zum Heimlaufen aufraffen. Noch immer sitze ich auf dem großen, verzweigten Apfelbaum in Blaines Garten.

Ich kann das Fenster seines Zimmers von hier aus sehen, doch nicht hineinblicken, was auch gut so ist. Gestern Nacht zog er die Vorhänge, nach einem letzten langen Blick nach draußen, zu. Ich hatte zwar vorgehabt, nur einige Minuten zu bleiben, und die Umgebung zu beobachten, doch aus den Minuten wurden Stunden, die sich jetzt von dunkler Nacht zu beginnendem Tag wandelten.

Das Leben auf den Straßen erwacht ebenfalls. Ich komme mir vor wie in einer anderen Welt. Wie lange ist es her, seit ich das letzte Mal am Tag draußen war. Die Welt sieht so anders aus.

Ich kneife die Augen gegen die nun gleißende Sonne zusammen, sie beginnen leicht zu tränen. Mit einem leisen Knurren verziehe ich mich weiter in den Schatten des Baumes, wenn auch die Blätter schon zum großen Teil abgefallen waren, die Äste waren so dicht gewachsen dass man mich von draußen unmöglich sehen konnte.

Doch Schutz gegen die Sonne bietet er leider nicht. Und den ganzen Tag kann ich nicht hier bleiben, also muss ich jetzt bald runter, solange noch nicht viel auf den Straßen los ist, damit mich niemand erwischt.

Noch immer bin ich angespannt. Die gestrige Begegnung hatte mich aufgewühlt und rastlos gemacht. Blaine hat keine Chance gegen einen Vampir, und erst recht nicht wenn er nicht einmal weiß, mit wem und was er sich anlegt.

Mit einem Seufzen beginne ich, den rutschigen, kalten Stamm herunterzuklettern, immer darauf achtend, unentdeckt zu bleiben. Kurz vorm Boden springe ich ab und lande in der Hocke, um keinen Ton zu machen. Langsam laufe ich über den frostbedeckten Boden, das Licht der Sonne sich tausendfach in den kleinen Kristallen brechend.

Kurz bleibe ich stehen, fasziniert von dem ungewohnten Anblick. Ich habe komplett vergessen, wie sich ein kalter Morgen anfühlt, wie er schmeckt, riecht. Wie das Leben erwacht, wie es von Sekunde zu Sekunde wärmer wird durch die Kraft der aufgehenden Sonne.

Ich schüttele energisch den Kopf. Wo verliere ich meine Gedanken wieder einmal? Energisch setze ich meinen Weg fort, im Gehen werfe ich noch einen letzten Blick auf das noch immer bedeckte Fenster zu Blaines Zimmer.

Ihm wird tagsüber schon nichts geschehen. Vampire sind nun einmal nachts am stärksten.

Die Straßen sind mittlerweile voll mit Menschen, alle gehen entweder auf die Arbeit oder zur Schule, manche sind gestresst, andere wiederum lassen das Leben an sich vorbeiziehen. Und ich schwimme gegen den Strom, gegen die Menschen die alle ein Ziel haben.

Die Sonne brennt auf mich nieder, auch wenn die Temperaturen ausreichen, um meinen Atem in kleinen Wolken aufsteigen zu lassen. Meine Augen wandern über die vielen Menschen, alles wirkt wie neu und fremd auf mich. Ich bin kein Teil dieser Welt, ich war es nie. Zwar lebe ich in ihr, doch mehr auch nicht. Ich bin ein Fremdkörper, ein Feind.

Ich fasse mir an den Kopf als sich eine Kopfschmerzwelle anbahnt. Ich setze meinen Weg gegen den Strom der Menschen fort. Der Geruch von ihrem Blut steigt mir immer wieder verführerisch in die Nase, doch ich werde meinen Begierden jetzt nicht nachgeben. Auch wenn ich weiß, dass ich nun schon bald wieder jagen muss, da ich unberechenbarer werde, je länger ich es herauszögere.

Mit pochenden Kopfschmerzen erreiche ich endlich meine Wohnung. Meine Haut prickelt, nicht schmerzhaft, jedoch sehr unangenehm und meine Augen tränen. Jetzt weiß ich wieder, warum ich es strickt vermieden habe, nach draußen zu gehen. Wobei es sich verbessert hat, früher war bloßer Kontakt mit der Sonne schmerzhaft wie eine Verbrennung, jetzt ist es nur ein leichtes Prickeln.

Numb (Boy x Boy)Donde viven las historias. Descúbrelo ahora