Teil 5

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Teil 5

Ever

Nando hüpfte aufgeregt auf seinem Stuhl herum. Ich lehnte meinen Ellenbogen an die Armlehne und stütze meinen Kopf in die Hand. Er blickte auf die roten Vorhänge der Bühne und wartete drauf, dass sie aufgingen. Ich betrachtete seine kleine geschwungene Nase, seine langen dunklen Wimpern, die kaum wahrnehmbaren Sommersprossen und natürlich das schwarze Haar. Er strahlte solch eine Lebendigkeit aus, dass er unsterblich wirkte. Wie lange würde er noch so glücklich aussehen? Einen Tag? Eine Woche? Einen Monat? Schon bald wird nichts mehr von dem sein wie es jetzt ist. Nando wird aufhören zu lachen. Seine Haut wird noch blasser werden als ohnehin schon. Seine Augen werden traurig werden. Er wird leiden. Wir alle werden leiden. Doch vielleicht sind es Moment wie diese. Momente in denen man nicht in dem Lebt was sein wird, sondern in dem was ist. Es sind jene Erinnerungen die uns bleiben werden, denn sie sind die schönsten. Nando wie er hier sitzt und lebt, als wäre da nicht diese Krankheit in seinem Körper. Als wäre sie für einen Moment fort.

Im Saal wurde es dunkler. Nando's präzise Umrisse verschwammen mit jeder Sekunde in der die Lichtstärke verringert wurde. Er griff in die große Popcorntüte, die auf seinem Schoß lag. Lächelnd nahm ich einen schluck von meiner Cola und wandte meinen Blick von Nando. Bemalte und in Kostümverkleidete Menschen begannen auf der Bühne zu singen und zu tanzen. Das ganze Musical über vergaß ich die Welt draußen. Es gab Nando, mich und die Menschen auf der Bühne. Ich würde diesen Tag in Erinnerung behalten, als einen in dem ein fröhlicher und lebhafter Nando sein Lieblingsstück ansah. Nicht als einen, in der ein bald sterbender Nando sein letztes Musical ansah. Das ist vielleicht das Geheimnis. Daran festzuhalten wie die Dinge aussehen und nicht wie sie wirklich sind. Den obwohl Nando Todkrank ist, ist er der strahlendste Mensch im ganzen Raum.

*

Ich schmiss den Kugelschreiber auf mein Wörterbuch.

„Ich bekomme das Zeug einfach nicht in meinen Kopf!" weinte ich und legte meine Stirn auf meinen Block. Ich hörte Damian lachen.

„Hör auf zu lachen, dass ist nicht lustig. Ich kann Ein Sommernachtstraum einfach nicht ins französische übersetzen."

Ich warf ihm einen bösen Blick zu, worauf sein grinsen noch breiter wurde. Er nahm mir das Wörterbuch ab und blätterte bis beinahe auf die letzte Seite.

„Du musst hinten nachsehen. Dort stehen Fachbegriffe und alte Wörter drinnen." Damian legte mir die aufgeschlagene Seite vor die Nase. Ich versuchte mit dem Aufbau des Lexikons klarzukommen, was jedoch zum scheitern verurteilt war. Die vielen Bedeutungen eines einzelnen Wortes bereiteten mir größere Schwierigkeiten als erwartet. Lorena kam mit einem Tablett zu uns gelaufen. Sie stellte jeden von uns ein Glas Wasser hin. Ich staunte nicht schlecht, als sich drei Eiswürfel in meinem Getränk befanden. Mittlerweile waren zwei Wochen vergangen seit ich hier eingezogen war. Wenn wir nicht gerade lernten, verbrachten wir die meiste Zeit mit Nando. Wir gingen ins Kino, etwas essen oder einfach nur spazieren. Mit jedem Tag wurde sichtbarer wie schwach Nando wurde. Er aß viel weniger als vor einer Woche. Manchmal bekam er Bauchschmerzen, die aber nach wenigen Stunden wieder vergingen. Lorena wurde immer skeptischer was die Ausflüge mit Nando angingen.

„Kann ich kurz mit euch reden?" fragte Lorena, während sie sich auf den Stuhl gegenüber von mir nieder ließ.

„Klar." antwortete ich. Damian sah weniger begeistert aus und seufzte leise. Ich sah ihn warnend an, worauf er mit den Augen rollte. Lorena nahm die Teetasse vom Tablett und umfasste sie mit ihren langen schlanken Fingern. Sie sah konzentriert auf die dämpfende Flüssigkeit, bevor sie den Blick aufrichtete. Ihre grünen Augen sah erst zu mir, dann zu ihren Sohn.

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