Teil 9

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Damian
Ich wachte auf und hatte höllische Schmerzen. Meine Fingerknöchel fühlten sich so an, als ob ich sie ins Feuer gehalten hätte. Erinnerungsfetzten von gestern Abend traten in meinen Kopf. Die Ärztin, die mir gesagt hatte, dass Nando nicht mehr viel Zeit blieb und von jetzt an alles schnell gehen würde. Meine Schluchzende Mutter, als Nando seine Kleidung wechseln musste und auf seinen Krankenhausaufenthalt vorbereitet wurde. Enzo, der nicht begriff was vor sich ging und mein Dad, der panisch ins Zimmer gestürzt ist. Das alles wurde zu viel. Alles krachte ein, wie ein altes Gebäude. Mein Kopf ist seitdem vernebelt und auch jetzt, am nächsten Morgen, fühle ich mich schrecklich. Ich hatte das Gefühl des freien Falls, ohne jeglichen halt. Als ich meine Augen öffnete wurde mir bewusst, wo ich eigentlich war. Mein Kopf ruhte auf Ever's Schoß. Ich spürte ihre Finger, die beruhigend mein Haar massierten. Leichte Lichtstrahlen erhellten den Flur, doch kein Mensch außer uns befand sich hier. Ich erhob mich und fuhr mit den Händen über mein Gesicht. Meine Augen wanderten von der mit Blut bespritzen Wand direkt in die großen braunen Augen von Ever. Ihre Mascara war verschmiert und ihr lächeln war erschöpft.
"Hey." sagte sie sanft und zog die Knie an. Ihre Beine mussten sicherlich vom Gewicht meines Kopfes eingeschlafen sein. Ever schlang die Arme um ihre Beine und stütze ihr Kinn auf den Knien ab. Ihr Gesicht wurde besorgter mit jeder Sekunde, in der wir Blickkontakt hatten.
"Wie geht es dir?" fragte sie, griff nach meiner Hand und betrachtete meine aufgeschürften Knöchel. Ich sah mir ihr besorgtes Gesicht an. Die grauen Wangen, die aufgrund ihrer Tränen verursacht wurden. Die erschöpften Augen, die jeglichen Glanz verloren hatten. Die traurigen Gesichtszüge und der nach unten gerichtete Mund. An alle dem war ich schuld. Weil ich sie so unbedingt haben wollte und es noch immer will. Ich kann mir kein Leben mehr ohne sie vorstellen. Obwohl ich ihr die meiste Zeit nur Kummer bereitet habe, bleibt sie bei mir und liebt mich. Ich umfasste ihr Gesicht mit meinen Händen und presste meine Lippen auf ihre. Das Feuer in mir entfachte, so wie es auch bei unserem ersten Kuss gewesen war. Sie hielt sich an meinen Oberarmen fest und stöhnte leise auf, als ich meine Zunge in ihren Mund gleiten ließ. Ihre Lippen waren weich und passten perfekt zu meinen. Sie gehörte einfach zu mir und in meinem inneren, wusste ich, dass es schon seit unserer ersten Begegnung so war. Ein unglaubliches verlangen durchströmte mich. Ich war ihr nah, doch ich wollte ihr näher sein. Jedoch wusste ich, dass sie noch nicht bereit dafür war und außerdem wollte ich sowas wichtiges nicht in so einer Zeit erleben. Ever war ungeküsst gewesen, also bestand kein Zweifel daran, dass sie auch noch Jungfrau ist. Ich mochte den Gedanken, dass sie alle Erfahrungen mit mir und nur mit mir erleben würde. Atemlos löste ich mich von ihren Lippen und strich ihr eine lose Strähne aus dem Gesicht. Ihre roten Lippen waren angeschwollen und ihre Augen riesig. Ich hatte sie lange nicht mehr so intensiv geküsst und mir viel auf, wie sehr mir das gefehlt hatte.
"Wofür war das denn jetzt?" fragte sie. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte mich an den Abend, an dem ich in ihr Zimmer geschlichen war. Schüchtern und verwirrt zu gleich.
"Einfach nur so." antwortete ich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ich erhob mich und streckte meine Hand aus, um ihr auf die Beine zu helfen. Ich verschränkte unsere Finger und sah auf die weiße Uhr oberhalb der Tür. Es war 6:00 Uhr morgens.
"Hast du geschlafen?" fragte ich sie, nachdem sie zum dritten Mal innerhalb einer halben Minute gähnte.
"Jaja." sagte sie träge und fuhr über ihr dunkelbraunes Haar. Ich kannte sie lang genug um zu wissen wann sie log.
"Also nein."
Sie antwortete nicht. Mein schlechtes Gewissen plagte mich, wenn ich an meinen Wutanfall von gestern dachte. Ich hatte vollkommen die Kontorlle verloren. Die aggressive Seite war in mir rausgekommen, obwohl ich diese ablegen wollte. Ich hatte keine Lust auszuflippen, denn ich wusste, dass es Ever Angst machte und ich wollte ihr keine Angst machen. Gestern aber wurde alles zu viel.
"Hast du Hunger?" fragte ich, als wir an einem Automaten vorbei liefen. Sie schüttelte den Kopf, doch ich glaubte ihr nicht. Ich zog sie mit mir zu dem Automaten und kramte Münzen aus meiner Hosentasche heraus, die ich anschließend einwarf. Es war nicht nötig zu fragen was sie haben möchte, denn ich wusste das sie eine Schwäche für Kinderriegel hatte. Der schokoriegel fiel herunter, so bald die passenden Zahlen eingetippt waren.
"Danke." murmelte sie und biss ein Stück ab. Wir gingen zum Aufzug und fuhren ein Stockwerk runter. Ich spannte mich an, sobald wir die Etage erreicht hatten. Nando befand sich nur wenige Meter entfernt und ich hatte Angst ihm gegenüber zu treten. Ich wollte nicht vor ihm in Tränen ausbrechen und ich wollte auch nicht, dass er meine aufgeschürften Hände sah. Ever drückte aufmunternd meine Hand, als wir eine Weile vor Nando's Tür standen. Ich traute mich einfach nicht.
"Du brauchst keine Angst zu haben Damian. Ich bin bei dir."
Ich sah zu ihr herab und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. Dabei schloss ich die Augen und genoss ihren vertrauten süßen Duft. Ich legte meine Hand auf die Türklinke und drückte sie herunter. Urplötzlich würde es muchmäuschenstill. Die Jallusienen waren heruntergerollt, weswegen es stockdunkel war und nur das Licht vom Flur den Raum erhellte. Ich trat in das Zimmer und lief auf Nando's Bett zu. Er lag schlummernd im Bett und war an etliche Kabel angeschlossen, die seinen Herzschlag messten. Mein Atem stockte bei seinem Anblick. Ich musste mich auf meine Atmung konzentrieren, die mit jeder Sekunde ungleichmäßiger wurde. Alles in mir fühlte sich so unglaublich leer und schwer zu gleich an. Nando's Haare wirkten nicht mehr schwarz sondern grau. Seine Augen waren geschlossen, doch trotzdem sah er vollkommen erschöpft aus. Seine Haut hatte einen grünlichen Stich bekommen.
"Was tun Sie hier?" zischte eine fremde Stimme. Ich blickte über meine Schulter. An der geöffneten Tür stand eine mollige Krankenschwester und starrte böse zwischen Ever und mir hin und her. Ich hatte garnicht bemerkt, dass Ever an der Tür stehen geblieben war.
"Er ist sein Bruder." erklärte sie geduldig und nahm das Haargummi von ihrem Arm, um sich damit einen Zopf zu binden. Die Krankenschwester betrat den Raum.
"Also erstens sind die Besuchszeiten von 7:00 bis 22:00 und und zweites müssen sie sich ausweisen, wenn sich diesen Raum betreten."
"Lassen sie ihn doch jetzt einfach bei seinem kleinen Bruder bleiben. Es ist sowieso bald 7:00 Uhr und er kann sich ausweisen, wenn sie ihn nicht glauben." Ich war froh, dass Ever für mich sprach, weil ich wohlmöglich die Krankenschwester angeschrien hätte. Sie sah misstrauisch zu mir und seufzte anschließend. Sie stampfte aus dem Raum und murmelte irgendwas von "Wieso habe ich mir diesen Job ausgesucht".
"Danke."
"Nichts zu danken." antworte Sie schulterzuckend.
"Komm doch rein." Ich winkte sie zu mir, doch ich bemerkte wie sehr sie zögerte. Langsam lief sie auf Nando's Bett zu. Sie blieb neben mir stehen und holte zittrig Luft. Ich erhob mich von Stuhl, damit sie sich setzten konnte.
"Haben die Ärtze gesagt wie lange er noch ungefähr haben wird?"
"Paar Wochen, vielleicht auch nur eine oder zwei. Man weiß es nicht genau. Aber er wird nichts mehr essen können und sich nur noch übergeben."
Ich sah wie sie den Kloß in ihrem Hals herunter schluckte. Es verstrich eine Menge Zeit, in der wir beide einfach nur Nando ansahen. Nando, der weiterhin friedlich schlief. Ich blickte erst von ihm ab, als das Geräusch von schweren Stiefeln ertönte. Enzo stand mit einem Karton an der Türschwelle. Er betrat ohne Ever oder mich anzuschauen den Raum und stellte den Karton am Bettende ab.
"Du solltest Mum oder Dad anrufen. Sie machen sich Sorgen, seitdem du gestern einfach weggegangen bist."
flüsterte Enzo und sah mich flüchtig an, ehe er den Raum verließ. Ich tat es ihm nach und schloss leise die Tür hinter mir.
"Ich geh dann mal kurz raus frische Luft schnappen." sagte Ever und zeigte mit dem Daumen den Flur entlang. Ich wusste, dass sie mich alleine lassen wollte, obwohl ich das eigentlich nicht wollte. Ich bejahte und sah ihr zu, wie sie am Ende des Ganges verschwand. Wieso fühlte es sich so schmerzhaft an Sie gehen zu sehen?

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