Der alte Traum

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3. Der alte Traum


Vielleicht sind die Träume nur Erinnerungen.

Friedrich Hebbel

*

Es ist der alte Traum. Sie rennt und tut es doch nicht, nein – jemand rennt, rennt mit ihr, hält sie fest in den Armen. Sie hat das Gefühl, sich fürchten zu müssen, aber das tut sie nicht. Jemand trägt sie. Ist bei ihr. Und sie weiß, sie muss keine Angst haben.

Aber wer auch immer sie trägt, hat Angst. Sie spürt den Atem in ihrem Nacken, hört das Keuchen in ihrem Ohr, merkt, wie sie fester umklammert wird. Sie werden schneller. Sie sind nicht allein, da sind mehr Schritte, neben ihnen, hinter ihnen. Da sind Stimmen, Worte, die sie nicht versteht, und dann, plötzlich, ist da Licht. Das Licht ist heller als alles, was sie kennt, jenseits des Erträglichen. Und jetzt, jetzt hat sie Angst, und sie schreit. Und der Griff lockert sich, Hände lösen sich von ihr, sie weiß, sie wird fallen, gleich, und sie schreit und Lukas schreit und Ben hebt seine Waffe und seine Hände sind rot und sein Gesicht ist bleich und tot und –

„Bin wieder da."

Indigo riss die Augen auf. Morenos Stimme hatte sie aus einem Zustand herauskatapultiert, in den sie sich in ihrer Kindheit häufig versetzt hatte – ein Tagtraum, intensiv genug, um ihre Umgebung fast vollständig auszublenden. Sie saß im Schneidersitz auf der unteren Matratze des schmalen Stockbettes, das neben einem aufgestellten Feldbett einen Großteil des kleinen, gelblich tapezierten Zimmers einnahm und beeilte sich nun, aufzustehen und Moreno eine der drei prall gefüllten Tüten abzunehmen.

„Sieht aus, als wärst du erfolgreich gewesen?" Er lächelte, während sie die Einkäufe auf dem wackligen Tisch am Fenster abstellten. „Allerdings. Lys?"

Ein kaum hörbarer Schlag ertönte, als Lysanna vom oberen Stockbett zu Boden sprang. „Du hast dir Zeit gelassen."

„Ich dachte, du wolltest schlafen?"

Lysanna verzog das Gesicht und winkte ab. Achtlos schob sie die beiden Tüten beiseite, die offensichtlich Nahrungsmittel enthielten, durchsuchte die letzte mit ein paar gezielten Griffen und stöhnte dann auf. „Mor! Shampoo, verdammt nochmal. Duschen. Waschen. Schon mal gehört?"

Er starrte sie an. „Es gibt Seife am Waschbecken –"

Mit einem ungeduldigen Knurren griff Lysanna nach ihrem Zopf und schüttelte ihn, dass die blonden Strähnen ihr nur so ums Gesicht peitschten. „Denkst du allen Ernstes, die hier bekomme ich mit Seife so hin? Bei allen Göttern, du bist ein hoffnungsloser Fall. Als hätte ich nicht vor einer halben Stunde gesagt –"

„Ich habe Shampoo", fiel Indigo rasch ein, als Lysannas Nasenflügel bedrohlich zu beben begannen. „Du kannst welches abhaben, wenn du willst."

Lysanna verstummte abrupt und starrte sie an, offenbar ernstlich überrascht davon, dass Indigo etwas Hilfreiches beizutragen hatte. „Ja", erwiderte sie nach einigen Sekunden. „Danke."

Kopfschüttelnd trat Moreno ans Fenster und warf einen kurzen Blick durch ein besonders großes Loch in den fleckigen Vorhängen. „Manchmal drängt sich einem wirklich das Gefühl auf, dass du falsche Prioritäten setzt." Er beobachtete die verlassene Straße noch für einen Moment, dann wandte er sich um und machte ein Geräusch, das wie ein aufforderndes Schnalzen klang. „Tja. Und jetzt?"

Indigo lächelte schief. „Ist das der Punkt, an dem euer Plan endet?"

„Nein, das ist der Punkt, an dem sich ein freies Zeitfenster auftut." Er musterte sie eingehend. „Wie fühlst du dich?", fragte er dann unvermittelt.

INDIGO EYES - Im Zeichen der ErdeOnde as histórias ganham vida. Descobre agora