Blut und Asche und Croissants

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4. Blut und Asche und Croissants

Wenn wir alle Nächte von dem gleichen Ereignis träumten, so würde es uns ebensosehr beeinflussen wie die Dinge, die wir alle Tage sehen.
Blaise Pascal

*

Inzwischen war eine Woche vergangen und die Fortschritte, die Indigo machte, beschränkten sich auf rudimentäre Kenntnisse der Sprache, die die Geschwister Hyiandanisch nannten und ein paar simple Schläge und Tritte, die Moreno ihr in Ermangelung einer besseren Idee beizubringen versuchte. Zwar verstand Indigo immer mehr von den Unterhaltungen, die Lys und Mor möglichst langsam und deutlich in ihrer Muttersprache führten, aber sie selbst brachte nichts als Englisch über die Lippen. Kombiniert mit dem Ausbleiben jeglicher Fortschritte im magischen Bereich war es nur eine Frage der Zeit, bis Lysanna endgültig die Geduld mit ihr verlor und tatsächlich ließ ein weiterer Ausbruch nicht lange auf sich warten.

Es war ein ungewöhnlich klarer Nachmittag gewesen und geblendet von den letzten orangefarbenen Sonnenstrahlen des Tages saß Indigo wieder einmal auf dem fleckigen Teppich und versuchte, den am Rande ihres Bewusstseins brodelnden Tagtraum in Schach zu halten. Moreno hatte sich mit überkreuzten Beinen auf dem kleinen Tisch niedergelassen und beobachtete mitleidslos, wie sie nach einer weniger unbequemen Position für ihre verkrampften Schultern suchte. Gerade war Indigo drauf und dran, wieder aufzugeben und ihn mit einer ihrer weniger kreativen Ausreden abzuspeisen, da ging die Tür auf und Lysanna rauschte herein, ein feuchtes Handtuch in der einen und eine Schminktasche in der anderen Hand. Moreno sah flüchtig auf, stockte und runzelte die Stirn.

„Was soll das werden?"

„Was genau meinst du?", erwiderte seine Schwester kühl.

Auch Indigo sah nun auf. Es war nicht schwer zu erkennen, was Moreno meinte. Lys trug das silberne Kleid, in dem sie damals, vor Jahrtausenden, wie es Indigo vorkam, im Molly Rouge getanzt hatte. Ihr langes Haar floss ungebändigt über ihre nackten Schultern, der einzige Farbfleck an ihrer irisierenden Lichtgestalt war der makellos aufgetragene dunkelrote Lippenstift.

Das da", gab nun auch Moreno zurück und machte eine vage Handbewegung in Richtung ihrer Erscheinung, „Das alles. Was hast du in diesem Aufzug vor?"

Lysanna hob eine Augenbraue. „Ich dachte, das wäre ziemlich offensichtlich. Ich gehe aus."

„Aus", wiederholte er tonlos.

„Allerdings."

Sie bückte sich nach ihren Schuhen und zog die schmalen Riemen fest, bevor sie sich wieder aufrichtete und nach ihrer Tasche griff. „Viel Spaß euch noch. Bis dann."

Sie hatte die Tür schon halb erreicht, als Moreno sich fast lautlos von seinem Sitzplatz erhob. „Lys. Du kannst nicht ausgehen."

„Wieso?" Ihre Stimme war so federleicht und kalt, dass Indigo schauderte.

Er starrte sie an. „Weil ... wir uns bedeckt halten müssen? Wir sind hier, um uns zu verstecken! Die wissen, wie du aussiehst, und wenn du –"

„Nein", fiel Lysanna ihm knapp ins Wort, „Wir sind hier, um sie zu verstecken", sie machte eine unwirsche Kopfbewegung in Indigos Richtung, „Und das tun wir. Aber das heißt nicht, dass ich wochenlang hier eingesperrt bleiben und ihr dabei zusehen muss, wie sie – ach ja – nichts tut. Du darfst schließlich auch gehen, wenn du willst –"

„Lys, ich war einkaufen und zwar für etwa zehn Minuten. Niemand hat mein Gesicht gesehen. Aber wenn du so ausgehst, wird man auf dich aufmerksam werden! Abgesehen davon, dass das wirklich alles andere als der richtige Zeitpunkt ist, um ..." Er brach ab und warf ihr einen wütenden Blick zu.

INDIGO EYES - Im Zeichen der ErdeWhere stories live. Discover now