Vorhang auf

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23. Vorhang auf

(...) Grell wehen die Fahnen, wir haben uns heftig entschlossen,

Ein Stoß ging durch uns, Not schrie, wir rollen geschwellt,

Wie Sturmflut haben wir uns in die Straßen der Städte ergossen

Und spülen vorüber die Trümmer zerborstener Welt. (...)

Ernst Wilhelm Lotz: Aufbruch der Jugend

*

Die oder du.

Aber sie brauchten keine Antwort.

Sie kannten ihre Entscheidung.

Lysanna stand auf.

*

Indigo wachte auf, als hätte sie jemand in Quecksilber getaucht. Sie fuhr hoch, rang nach Luft und noch bevor sich der Traumnebel ganz verzogen hatte, wusste sie schon, dass etwas nicht stimmte.

„Lys?"

Keine Antwort.

Die Lampen waren immer noch aus. Indigo tastete auf die andere Seite des Bettes; die Matratze war kalt.

Steifbeinig stieg sie in ihre Jeans, fummelte mit kalten Fingern an dem Knopf herum und schlüpfte schließlich leicht zitternd hinaus auf den Gang. Wann war die Luft so kühl geworden? Aber zumindest war es nicht mehr völlig dunkel. Ein schwaches Dämmerlicht beleuchtete ihren Weg, so dass sie keine Schwierigkeiten hatte, sich zurechtzufinden. Sie hastete an der Treppe vorbei, die in den Wohnbereich führte. Kein Laut drang zu ihr hinauf, trotzdem rief sie gedämpft: „Lys?"

Nichts.

Indigo erreichte den Fitnessraum, stieß die Tür auf. Irgendetwas in ihr hatte so sehr gehofft, gefleht. Als ihr Blick durch den leeren Raum sprang, donnerte ihr Herz wie ein gefangenes Tier gegen ihre Rippen.

Wenn Adam nur ein eigenes Zimmer hätte. Aber er teilte es sich mit Mor, es war so unwahrscheinlich –

Sie machte kehrt, stürzte zurück zu den Schlafzimmern, klopfte an die Nachbartür und stolperte schon im nächsten Moment über die Schwelle, zu ungeduldig, um eine Antwort abzuwarten. Sie roch Duschgel und eine Spur von Schweiß und irgendwo in ihrem Hinterkopf registrierte sie mit Verwunderung, wie vertraut ihr Morenos Geruch in den wenigen Wochen geworden war. Dann raschelten Laken und eine verschlafene Stimme erklang.

„Was ..."

„Ist Lysanna hier?"

Mor schnaufte, immer noch im Halbschlaf. „Wieso bei allen Göttern sollte Lys –"

Er verstummte. Als er neu ansetzte, war seine Stimme hellwach und scharf: „Sie ist nicht drüben?"

„Nein."

„Im Bad? Unten? Im –"

„Nein, verdammt! Ich habe überall gesucht! Ich –"

Jemand sprang aus dem Bett und stürzte auf sie zu. Im nächsten Moment stand Adam direkt vor ihr, die Augen weit aufgerissen. „Sie ist weg! Sie ist – verdammt nochmal, das kann nicht ..." Er griff blind nach einer der Hosen, die auf dem Boden lagen, stutzte, dann warf er sie Moreno zu. Es dauerte kaum fünf Sekunden, bis beide in Jeans vor ihr standen, aber Indigo kam es vor wie eine halbe Ewigkeit. Ohne weiter auf Adams Geplapper zu achten, wandte sie sich an Moreno und packte ihn hart am Arm.

„Wir müssen sie finden!", stieß sie hervor und ignorierte die Tatsache, dass sie vermutlich immer noch überwacht wurden, „Wir müssen –"

„Wieso sie?", fuhr Adam dazwischen, scheinbar ohne jemand im Speziellen anzusprechen. „Wieso denn sie? Ich dachte, ich würde – o-oder ihr beide, aber doch nicht –"

INDIGO EYES - Im Zeichen der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt