no. 1

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>He don't wanna know me
Says he made the big mistake of dancing in my storm
Says it was poison<

×××

Alles in ihr zuckte zusammen. Immer, wenn sie feststellte, dass ihr ein Mensch nach dem anderen genommen wurde.

Erst ihre Eltern, dann ihre Tante, dann ihre vorübergehenden Eltern, denen sie vom Heim aus zugeteilt wurde, und dann auch noch all die Menschen aus dem Heim, aus das sie hinaus musste, als sie 19 Jahre alt wurde und alle der Ansicht waren, sie würde nicht mehr dorthin gehören.

Sie schwor drauf, dass das Schicksal etwas gegen sie hatte. Glaubte an etwas, das sich gegen sie gerichtet hatte, denn wieso sonst wurden ihr alle Menschen in ihrem Leben genommen, bei denen sie sich auch nur ein wenig wie Zuhause gefühlt hatte? (Auch, wenn ihre verübergehenden Eltern nicht sehr nett waren, hatten sie trotzdem ein schönes, wohliges Heim.)

Sie saß einfach nur so da. Auf einem Bürgersteig der Straße einer Siedlung voller Familienhäuser. Drehte ihre vorletzte Zigarette in ihren Fingern umher und knibbelte an dem orangefarbenen Ende.
Die Sonnenstrahlen am Abend warfen die letzte Wärme gegen ihre verschwitzte Stirn, während sie etwas weiter weg Kindern zu sah. Diese kletterten gleichzeitig den Turm eines Spielplatzes hoch, den sie vielleicht mit Leichtigkeit innerhalb einer halben Minute erklimmt hätte.

Ihre Nase kräuselte sich bei dem Duft von etwas Essbaren auf einem nahen Grill. Ihre nackten Beine juckten durch die immer wiederkehrenden Fliegen, die an dem Tag gern auf ihrer Haut saßen, und ihre Fingernägel kratzten den Dreck entlang, der wie weitere Flecke ihre helle Haut bedeckte.

Weitere Flecke...Ihre Haut war nur so besetzt von Flecken. Helle Flecken, die sich über ihren gesamten Körper zogen. Selbst ihr Gesicht blieb davon nicht verschont. Eigentlich blieb nur wenig ihres Körpers davon verschont.
Ein Grund, den sie als Ausrede dafür nahm, dass Menschen sie verließen. Immer wieder. Volltreffer an Schmerz. Keine Gnade.

Sie glaubte, durch ihre Pigmentstörung Menschen abzuschrecken. Glaubte, ihre Eltern hatten sie aufgrund dessen verlassen, als sie noch klein war. Glaubte, ihre Tante, bei der sie für eine Weile lebte, verließ sie ebenfalls deswegen. Verschwand, kam nie wieder. Genau wie ihre Eltern. Glaubte, ihre vorübergehenden Eltern wollten sie nicht mehr, da sie eben anders aussah als normale Kinder.

Doch wie konnte man es überhaupt wagen, normal zu definieren?

Seither wollte sie niemand mehr. Sie blieb im Heim. Lebte dort mit Kindern, die einen viel schlimmeren Hintergrund hatten als sie. Und sie kam sich albern vor. Als sei sie eine Witzfigur. Abgeschoben und verlassen wegen ihrer Haut. Wegen den vielen braunen Flecken auf dieser blassen, verletzlichen Haut. Wegen diesen vielen Narben in ihrer Seele, die durch Beleidigungen und dem Starren anderer Menschen verursacht wurden.

Sie fühlte sich so hässlich und abnormal, ungeliebt und abgestoßen. Nicht gewollt. Das brachte sie zu dieser Straße der Siedlung. Dorthin, wo sie niemand bemerken würde. Wo die Stille zu ihrem kurzzeitigen Freund wurde. Wo sie nur in sich hinein schweigen und nachdenken konnte. Ohne Menschen, die sie anstarrten.

Die Kinder auf dem Spielplatz bemerkten sie ja nicht einmal. Sie waren zu beschäftigt mit sich selbst und dem hohen Turm.

Alles, was sie noch besaß, befand sich in dem Rucksack neben ihr, der mehr Löcher hatte als ein Stück Käse. Ausgefranst, dreckig (genau wie sie).

In ihrem Kopf schwebte die Frage umher, wie es weitergehen sollte. Wo sie hin sollte. Was sie tun sollte. Sie wusste ja noch nicht mal, wer sie eigentlich war und wer sie sein wollte. Sie kannte sich nicht. Sie kam sich durch all ihren Selbsthass nicht wie sie selbst vor. Nicht wie die Person, von der sie dachte, sie zu sein. Sie fühlte sich fremd. Eine Fremde in ihrem eigenen Körper zu sein.

Und sie kannte keine Lösung für dieses eine Problem ihrer Vielen. Sie kannte keine, noch wollte sie zwanghaft eine. Sie lebte damit. Sie lebte mit ihren Flecken und würde auch für immer damit leben müssen.

Ein frustrierter Atemzug kam aus ihrem Mund. Daraufhin ein weiterer, und noch einer, bis sich ihre Augen mit Tränen füllten. Bis sie realisierte, dass das alles die traurige Wahrheit war.

Sie hasste sich und ihr Leben, saß auf einem Bürgersteig einer Straße, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, und trug ihr Restleben in einem alten Rucksack umher. Alle Leute hatten sie verlassen, sodass sie sich verflucht von ihrer Krankheit vorkam. Sie besaß kein Handy, um irgendwen anzurufen, und Geld besaß sie auch nicht.

Es war, als würde sie in dieser Gesellschaft nicht mehr länger existent sein. Ohne all das wäre sie doch nicht viel mehr als nur ein Geist, den man teils durch leere Straßen wandern sah.

Der Gedanke, nichts mehr zu sein, erschütterte sie. Ließ sie in der Abendsonne frieren und ihre Beine an ihren Körper heran ziehen. Ihr Rücken krümmte sich, die Arme legten sich um die Knie und ihr Kopf passte oben drauf. Ein Nest für ihr Kinn. Die einzelne Zigarette baumelte noch immer in ihren Fingerzwischenräumen. Sie stellte sich vor, wie der Rauch ihre nach Luft verlangende Lunge füllte und sie kurz erstickte, bis sie ihn hinausblasen und atmen könnte.

Musik. Sie würde gerne Musik hören, dachte sie. Sie würde gerne Musik hören, und das laut. So laut, dass andere Leute sie auch hören könnten. Und sie würde dazu tanzen. Nur, um für einen Moment lang wer anders sein zu können. Sie würde tanzen und die Welt vergessen.
Aber die einzige Musik fand in ihrem Kopf statt. Sie hatte nichts, womit sie sich irgendwie unterhalten konnte, und das machte sie umso trauriger. Ihre schwache Stimme summte bloß Töne, die ihr spontan einfielen, und ihre mit einem Fleck geschmückte Fingerkuppe tippte vorsichtig gegen ihren Schenkel.

Die Kinder vor ihren Augen wurden zum Abendessen gerufen, der Duft von Gegrilltem zog in ihre Nase und aus der Ferne hörte man einen aktiven Rasenmäher.

Auf eine Art und Weise fühlte sie sich hier heimisch. Sie dachte an das Haus, in dem sie damals lebte, und wie ihr Vater jeden Sonntag den grünen Rasen im Garten mähte, während sie ihn dabei anfeuerte und er ihre Rufe wahrscheinlich nie gehört hatte, da der Mäher sie immer übertönte.

Ihre braunen, langen Locken fielen ihr warm den Rücken runter. Vollgesogen von Wärme mit dem Duft eines sonnigen Abends und Rauch.

"Hallo, junge Dame?"

Ihr Kopf drehte sich zu der Stimme einer Frau hinter sich. Sie stand in der Tür des Hauses, vor dem sie saß.

"Kann ich Ihnen helfen?", fragte sie und beäugte das junge Mädchen skeptisch. Zugegeben, da lag ein wenig Angst in ihren Augen.

"Können Sie nicht.", antwortete das Mädchen leise und lächelte ihr bestes falsches Lächeln. Sie wollte Hilfe, doch wollte sie auch keine Hilfe. Der Zwiespalt, in dem sie sich befand, tippte ihr auf beide Schultern. "Trotzdem...danke"

Daraufhin stand das Mädchen mit den vielen Flecken auf, nahm ihren Rucksack und steckte sich ihre Zigarette zwischen die Zähne.

"Bin schon weg.", nuschelte sie noch der Frau zu, setzte einen Fuß vor den anderen und verschwand um die nächste Hausecke, die sie erreichte, um in eine andere Straße zu biegen.

Sie sah nicht noch einmal zurück. Ihre Augen fokussierten sich auf nichts besonderes, sie brannten nur vor Müdigkeit und Trockenheit. Mit ihrem Rucksack auf dem Rücken fühlte sie sich wie eine Schildkröte, weshalb sie ihn mit einer Hand trug, die bloß den Henkel hielt.

Ihre Füße fühlten sich ebenso fremd an wie die Person in ihr. Sie glaubte, eine Ahnung davon zu haben, wohin sie ging, dabei hatte sie keine, und sie redete sich ein, ein neues Zuhause finden zu könnten, dabei belog sie sich sehr oft nur selbst.

Sie verdrängte das Morgen, die Zukunft und das, was in einigen Stunden kommen würde. Das tat sie oft genug. Und sie dachte manchmal zu wenig nach, um sich als klug genug, um allein klar zu kommen, zu bezeichnen. Sie stolperte über ihre eigenen Füße, versank in den Lügen gegenüber ihrem Ich. Alles nur, um zu verdrängen, was Tatsache war.

Sie war eben anders.

×××

1. Tell me ur opinion if u want <3

blind.Where stories live. Discover now