no. 4

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>Now I'm a ghost, I call your name, you look right through me<

Jon Bellion - All Time Low

×××

Nancy blieb mit Josi die ganze Nacht lang in dieser weiß-blauen Küche, sprach mit ihr über Gott und die Welt. Sie brachte Josi dazu, sich ihr immer mehr zu öffnen, ganz unbewusst und Schritt für Schritt.

Nancy wollte ihr das Gefühl geben, es sei okay. Alles sei okay. Und genau dieses Gefühl kam bei Josi an. Sie fühlte sich verstanden von einer Frau, die sie erst seit einigen Stunden kannte. Sie fühlte sich bei ihr ein wenig Zuhause. Und das wollte Nancy. Sie wollte dem heimlosen Mädchen ein Zuhause geben, ein Dach über dem Kopf.
Sie wollte Josi einen Grund nehmen, um den sie sich Sorgen machte.
Am liebsten hätte sie ihr all ihre Sorgen genommen.

Josi, die immer mehr auftaute und nach dem zweiten Kakao einen Dritten dankend ablehnte, lehnte ihren Rücken entspannt gegen die Couch, auf die sich beide kurz zuvor zurückgezogen hatten, als es ihnen in der Küche dann doch zu anstrengend wurde.

Im Wohnzimmer brannten Kerzen und Lichterketten in dieser besonderen Nacht, in der eine gütige Frau einer Person etwas gutes tat.
Josi stellte ihre leere Tasse auf dem kleinen, rechteckigen Tisch vor ihren Beinen ab, der sie an eine kleine Tafel Schokolade erinnerte.

Nancy sprach eine ganze Zeit von ihrem Sohn, doch sagte nie seinen Namen. Sie erzählte Josi auch nicht, wie es dazu kam, dass er nun blind war. Ob er von Geburt an blind war oder blind wurde, wusste Josi noch immer nicht, als sie zu Bett ging.

Nancy erzählte allerdings, dass ihr Sohn ziemlich sicher durch das Haus laufen konnte, da er wusste, wie viele Schritte er in welche Richtung setzen konnte, um,- zum Beispiel-, bei dem Bad anzukommen.
Sie erzählte, dass ihr Sohn keine Freunde besaß, die ihn besuchten, und er nicht mehr zur Schule ging, seit man ihn für seine Blindheit gemobbt hatte. Sie sagte, sie habe ihm angeboten auf eine Schule für Blinde zu gehen oder Privatunterricht zu bekommen, aber er weigerte sich dagegen. Er wollte nichts mehr mit anderen seines Alters zu tun haben.

"Dass er nie Besuch hat besorgt mich.", erzählte Nancy Josi, "Ich will doch nur, dass er ein normales Leben führen kann, doch er weigert sich gegen alles, was ich ihm vorschlage. Er sagt immer wieder, dass er all das hasst, und ich weiß nicht mal, was er immer mit all das meint."

"Vielleicht meint er sein ganzes Leben.", sagte Samantha Josephine dazu.

"Aber wieso? Ich kann ihm alles, was er braucht, bieten...ich verstehe sein Problem einfach nicht. Er hat Bücher für Blinde. Er hat ein Radio, ein Handy mit Knöpfen, um überhaupt wen anrufen zu können. Er hat einen Blindenstock und er hat Chess, um draußen klar zu kommen. Chess passt auf ihn auf."

"Das ist schön.", antwortete Josi ihr leise. Sie kannte das Gefühl alles zu hassen. Fühlte sich mit ihm dadurch verbunden. Sie konnte sich gut in ihn hinein versetzen.
"Nicht jeder mag das, was er hat, so schön es auch alles sein mag. Vielleicht ist es bei ihm ja so. Oft hasst man, was man hat, bis man es dann nicht mehr hat. Dann vermisst man, was man mal hatte, aber bekommt es nicht zurück..."

Nancy sah sie sprachlos an. Sie hatte solch bedeutende Worte lang nicht mehr gehört. Vorallem nicht von einem so jungen Mädchen. Nancy erfuhr von Josi zwar ihre Geschichte, doch konnte nicht in Josi's Kopf schauen. Sie kannte die tiefen Gedanken ihres Kopfes nicht. Kannte die Schwärze in ihr nicht.

Und zum Abschluss des Abends fragte Nancy auch noch, als Josi bereits zu dem Zimmer gehen wollte, das Nancy ihr vorhin kurz gezeigt hatte, um schlafen zu gehen: "Was ist mit deiner Haut passiert, Kleines?"

Josi drehte sich langsam zu Nancy um, die im gedämpften Licht auf der dunklen Couch saß, ein Glas Wein in ihrer Hand und die leere Tasse von Josi auf dem Tisch vor ihren Beinen. Sie sah Nancy innig an. Traf direkt auf die dunklen Pupillen ihrer Augen, die auf sie gerichtet waren und von oben bis unten ansahen.

blind.Where stories live. Discover now