no. 5

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>Alles, was mich bisher gestoppt und gestresst hat, findet nur im Head statt
Hat echt lange gedauert, bis ich gecheckt hab'
Dass ich verdrängt hab', was mich gebremst hat. <

Dat Adam - Blau & Pink

×××

Am nächsten Morgen wurde sie durch das leise Klopfen an der Tür des Gästezimmers wach. Sie erinnerte sich sofort daran, dass sie wieder gehen musste. Dass sie doch nicht ewig bei Nancy bleiben konnte, ohne Geld, das sie Nancy für das Leben bei ihr zahlen könnte. Jemals zahlen könnte.

Sie hasste den Gedanken, wieder gehen und eine neue Unterkunft finden zu müssen. Ihr wurde sogar der blinde Junge etwas sympathischer. Der Junge, der einen Hass gegenüber allem entwickelt hatte, doch nicht gegenüber der Stimme der Fremden, die eines Abends einfach in der Küche seiner Familie saß.

Sie drehte sich in dem warmen Bett um, als sie eine Figur erblickte, die die Tür fest umschlossen hielt. Als könne sie fallen, wenn diese losgelassen werden würde.

Ohne viel Mühe erkannte sie den braunen Haarschopf, der sich bemerkbar machte. Sie rieb sich müde und verschlafen ihre nicht mehr brennenden Augen und gähnte. Als sie ihre Hand sah, wurde sie aus ihrer Phase des Wachwerdens geworfen. Sie sah die pigmentlosen Flecken, die ihr Selbstbewusstsein kränkten.

Und direkt im Anschluss schämte sie sich dafür, wie sie aussah. Sie schämte sich, obwohl ihr klar war, dass er sie nicht sehen konnte. Ihr kam es trotzdem so vor, als könnte er sie sehen. Mit jeder Zelle ihres Körpers. Sein trüber Blick fühlte sich intensiver an als alle Blicke, die ihr je gewidmet wurden. Alles an ihm kam ihr realistischer vor. Echter. Lebendiger.

"Bist du wach?", fragte seine morgendliche Stimme in den Raum hinein. Sein Gesicht zu einem der Fenster gerichtet, das Licht in das Zimmer ließ.

"Ja", brummte sie unter der Decke hervor und verkroch sich noch viel weiter, um ihre Haut zu verstecken. Sie kam sich so albern vor, etwas zu verbergen, was er nicht sehen konnte.

Vielleicht wollte sie ihre Haut auch nur vor sich selbst verstecken.

"Meine Mutter hat Frühstück gemacht. Du sollst essen kommen.", wies er sie hin und hörte das Rascheln der Bettdecke und das Quietschen des Bettes, "Stehst du auf?"

"Ich lieg noch immer.", sagte sie wieder, "Und ich werde nicht aufstehen, eh' du nicht draußen bist."

"Ich kann dich doch sowieso nicht sehen. Was macht das für'n Unterschied?"

"Wenn du wüsstest, wie ich aussehe...", sagte sie leise zu ihm und meinte damit nicht ihre morgendliche Verfassung, sondern ihr gesamtes Ich, "dann würdest du mich verstehen."

"Vielleicht kann ich dich ja auch verstehen, ohne dass ich dich dafür sehen muss.", stellte er mit einer Stimme in Frage, die ihre Augen an ihm haften ließen, und tapste vorsichtig weiter in den Raum hinein. Seine Füße tasteten unsicher den Boden ab und seine Hände hatte er in gefühlt alle Richtungen ausgestreckt.

Josi sah dabei zu, wie er sich zu orientieren versuchte. Er hatte den Kopf nach unten geneigt und das Gehör überall.

Durch das Blindsein hatte er etwas außergewöhnliches feststellen müssen. Er bemerkte, dass seine Ohren für ihn wichtiger wurden, als je zuvor, denn seine Augen konnten für ihn nicht mehr sehen. So mussten seine anderen Sinne diese Aufgabe übernehmen, doch vor allem seine Ohren. Er hörte manchmal etwas, was andere nicht wahr nahmen. Konnte ein einziges Geräusch einer bestimmten Tätigkeit zuordnen.
Er stellte es sich so vor, als hätte er in seinem Erinnerungsvermögen tausende Schubladen, in jeder ein Geräusch, verbunden mit einer Tätigkeit. Und je mehr er hinhörte, desto mehr konnte er verstehen, was um ihn herum geschah.

blind.Where stories live. Discover now