37. Sitzung

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Das war er also; der Tanz der Zuckerfee – oder was auch immer. Das große Finale vom Nussknacker, wenn ich es richtig verstanden hatte. Ich saß neben meiner Mutter auf diesen unfassbar weichen Sitzen. Während das Orchester in einem Graben vor der Bühne Tschaikowski's Stück wieder gab, tanzte meine Schwester konzentriert eine Pirouette nach der Anderen.

Dann verstummte die Musik, jeder Atem schien zu stocken und jeder Blick richtete sich auf die Ballerina.

Es ist kalt. Wirklich kalt. Vielleicht fühlt es sich auch nur so an. Vielleicht zittere ich aus ganz anderen Gründen. Doch momentan scheint alles völlig egal, gleichgültig und jedes Geräusch wird ausgeblendet. Ich kann nur die kalte Luft spüren und die Leere, wie sie von Kälte ausgefüllt wird und mir Gänsehaut bereitet. Irgendetwas in mir will schreien, weinen und sich die Hände an den Wänden kaputt hauen, sehen wie das blaue Blut aus ihnen tropft.

„Jack?"

Elisabeths Stimme kann ich hören, aber ich will nicht reagieren. Ich wüsste nicht einmal was ich ihr sagen sollte. Es gibt keine Worte, die meine Angst beschreiben könnten. Ob Angst das richtige Wort ist? Ist es nicht viel eher die pure Panik?

Es drückt und zieht überall.

Und es tut so wahnsinnig weh.

'Sie ist hingefallen.' - 'Geht es ihr gut?' Das war das, was ich die Leute flüstern hörte. Sie schienen bestürzt, doch keiner von ihnen war so geschockt wie Vio selbst. Sie hätte schreien sollen angesichts ihres eigenartig gestellten linken Knöchels. Doch das tat sie nicht, eigentlich tat sie überhaupt nichts. Sie sah nur fast schon flehend entschuldigend zum Publikum.

Dann wurden die Vorhänge auch schon zu gezogen und die Regie entschuldigte sich für diesen Vorfall.

„Sie wollen wissen, was ich denke?", frage ich Elisabeth und klinge heiser. Nicht weil ich geschrien hätte oder so viel geredet hätte. Nein, eher weil ich es nicht getan habe.

„Ihnen muss viel durch den Kopf gehen, Jack", antwortet Bloomfield verständnisvoll und zugleich mitleidig.

„Halten Sie die Klappe, Elisabeth."

Ich will es nicht hören. Es war ein Fehler sie anzurufen. Ich brauche niemanden der mir sagt, dass alles wieder gut werden würde, denn das ist eine Lüge.

'Sie können hier nicht rein', erklärte mir der Muskelprotz zum gefühlten zwanzigsten Mal. 'Hören Sie zu, Arschloch; ich bin ihr Bruder und ich darf sehr wohl hier rein.' Ich hatte versucht mich an ihm vorbei zu quetschen, doch der Kerl hielt mich einfach am Pullover fest.

'Nein.' Er betonte jeden einzelnen Buchstaben bissig.

Auf das was ich dann tat, sollte man nicht stolz sein, aber zu dem Zeitpunkt hielt ich es für das einzig Richtige. Also schlug ich meine Faust in sein Gesicht und als er austeilen wollte bin ich unter seine Arme durchgeschlüpft.

'Nächstes Mal, vielleicht', hab ich vorgeschlagen und bin so schnell wie möglich losgelaufen.

Irgendwo zwischen Ballerinen, Kostümständern und Bühnenarbeitern habe ich sie dann gefunden.

Violett trug noch ihr komplettes Kostüm, sogar die Ballettschuhe hatte sie nicht ausgezogen und wäre da nicht der angeknackste Fuß und das von Tränen verschmierte Make-Up hätte man sie glatt wieder raus schicken können.

'Los, Mädchen! Die Show muss weiter gehen!', rief irgendeiner durch die Gegend und klatsche eifrig in die Hände.

Vios Fuß hatte man hochgelegt und eigentlich hatte ich erwartet, dass sich jetzt alles um ihre Verletzung gedreht hätte, doch stattdessen schien jeder wieder mit der Aufführung beschäftigt und der Ersatz für meine Schwester machte sich gerade bühnenfertig.

Jack Carter Ist UnsterblichWhere stories live. Discover now