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Noah:




Ich war froh, dass Cam mich festhielt.

Viel hatte sich für mich durch den Tod meines Stiefvaters nicht geändert, doch trotzdem war es ein Schock.

Der Mann, der mich aufgezogen hatte, war tot, die Hoffnung, die man Dave und mir gemacht hatte, ebenso.

Aber gleichzeitig war es auch der Mann, der uns jahrelang misshandelt hatte.

Trotzdem hatte er sich immer um uns gekümmert und es gab auch sehr viele gute Momente mit ihm.

Keine Ahnung, ob ich nun erleichtert sein sollte, dass er tot war, immerhin musste er auch so nicht mehr leiden, oder doch traurig.

Ich war noch verwirrt und, dass ich nun, nach meinem Rumgeknutsche mit Sandy und Max mit ziemlicher Sicherheit wusste, dass ich bi war, änderte daran nichts.

Ich war emotional verwirrt und nicht sexuell.

„Er war echt ein guter Vaterersatz", meinte ich irgendwann in die Stille.

Ich wusste, dass Cam nur darauf wartete, dass ich mich ihm anvertraute, doch wusste es zu schätzen, dass er mir keinen Druck machte. Das mochte ich so an ihm. Bei ihm konnte ich sein, wie ich war, mich wohlfühlen und wurde dabei immer behütet.

„...aber er war auch ein Alkoholiker und Schläger."

Cam zuckte bei meinen Worten zusammen, doch ich ließ ihm keine Möglichkeit, viel darauf zu reagieren. „Ich weiß nicht, ich denke meine Angst vor der Dunkelheit kommt auch ein wenig daher. Immer, wenn die Sonne weg war, war es die Sicherheit auch und mit Beginn der Nacht hat meine Mutter zu schreien begonnen. Anfangs war es nur selten, wenn er halt Stress hatte oder so. Dann immer häufiger und als er seinen Job verloren hat, dann regelmäßig. Über so viele Jahre hinweg. Ich verstand nicht mal, was da vor sich ging. Ich hielt es für total normal. Aber je älter ich wurde, desto mehr hab ich verstanden, dass er ihr wehgetan hat. Dass sie diese blauen Flecken und Wunden von ihm hatte. Dass er, egal, wie sehr er sich um uns kümmerte auch seine böse Seite hatte. Irgendwann wollte ich sie dann beschützen, aber das einzige, was es gebracht hat, war dass es für sie nur noch schlimmer wurde und ich auch „Strafen" bekommen habe. Nachdem er auch mich verletzt hat, hat Dave sich ebenfalls eingemischt und ihm ist das gleiche widerfahren. Wir haben versucht, Mum zu helfen, sehr lange, aber obwohl sie nie ein Wort über die Misshandlungen verloren hat, hat sie uns einmal gebeten, aufzuhören, uns einzumischen. Also haben wir das getan."

Ich schüttelte den Kopf, während ich daran zurück dachte. Damals hatte es noch Sinn für mich ergeben, doch jetzt klang es so falsch, da ich wohl oder übel der Feigling in der Geschichte war.

„Es war einfach das Beste für alle. Sie musste nicht mehr so viel aushalten und Dave und ich gar nichts, außer diese Schreie. Ich hab mich jede Nacht zu Dave ins Bett geschlichen und bei ihm geschlafen. Er war ein guter Bruder. Er hat mir immer solange was vorgesungen oder vorgespielt, bis ich eingeschlafen bin, sodass ich es mir nicht mit anhören musste. Aber ich wusste immer, dass e trotzdem passiert ist. Wir alle wussten das. Aber einfach nichts zu tun war einfacher und weniger schmerzhaft."

„Noah", hauchte Cam. Seine Stimme klang schmerzerfüllt, während er mich näher zu sich zog. Ich drehte mich zu ihm um, um ihm in die glasigen Augen zu sehen. „Ist schon okay, Cam. Ich komme damit klar." Ich lächelte ihn an und strich mit dem Daumen über seine Wange.

Er sah mich trotzdem leidend an. „Es tut mir so leid"

„Du kannst doch nichts dafür" Ich rutschte näher zu ihm auf, sodass sich unsere Körper berührten und wir Nasenspitze an Nasenspitze lagen.

„Ich weiß", meinte Cam. „Aber könnte ich, würde ich es ändern. Ich würde alles ändern. Du hast so viel Scheiß durchgemacht. Du müsstest eigentlich total kaputt sein. Aber du bist so verdammt stark." Er schien das echt so zu meinen und sprach es mit viel zu viel Bewunderung aus. „Trotzdem würde ich alles dafür tun, dass du das niemals hättest dadurch beweisen müssen. Du hast das alles nicht verdient. Du hast es verdient, glücklich zu sein..."

„Das bin ich", unterbrach ich ihn. „Ich bin glücklich, wenn ich bei dir bin"

Das zauberte ihm ein trauriges Lächeln auf die Lippen. „Ich würde so viel mehr für dich tun, wenn ich könnte", versicherte er mir, während er mir durch das Haar strich. „Ich würde alles für dich tun"

„Das musst du gar nicht" Kopfschüttelnd sah ich in an. „Du bist vollkommen genug. Mir geht es gut, solange du bei mir bist." Und das meinte ich so.

Seit ich ihn, sein wahren Ich kennenlernen durfte, ging es Berg auf mit mir und meinem Zustand.

Er führte mich langsam aus dem Tal, wahrscheinlich ohne es überhaupt zu wissen.


Das Herz meines Bruders (BoyxBoy)Where stories live. Discover now