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Noah:

Ich war irgendwie überraschend ruhig. Alles in mir schien im still zu stehen. Meine Hirnaktivität hatte ausgesetzt, mein Herz war stehen geblieben, nicht mal zu atmen wagte ich es.

Ich brauchte gerade nur eine einzige Sache, um zu überleben und zwar, dass Cameron endlich mal einen Zahn zulegte und mich küsste.

Meine Augen waren schon längst geschlossen und meine Lippen schrien nach seinen.

Die Zeit verging quälend langsam, ich spürte seinen Atem an meinen Lippen, wusste, es würde jeden Moment so weit sein.

Als ich dann eine hauchzarte Berührung auf meinen Lippen spürte, hörte ich einen lauten Knall.

Cam schreckte zurück und wir beide sahen geschockt zur Tür, die von Dave beim schwungvollen Öffnen gegen die Wand geschlagen worden war.

„Oh sorry, wollte nicht stören...", meinte er sofort, sah uns entschuldigend an.

Er erkannte genau, wobei er gerade störte und das war ihm schrecklich unangenehm, was ich an der Hand erkannte, die er in seinen Nacken legte und leicht kratzte.

Ein Blick zu Cam verriet mir, dass er mich verzweifelt ansah und sich die Haare raufte.

Er hatte total süße rötliche Wangen, was ich zum ersten Mal bei ihm sah, und amtete beschleunigt, so als würde ihn diese ganze Situation ungemein anstrengen.

„Was willst du, Dave?", fragte er. Er zitterte total, ich hatte ehrlich Angst, das er gleich zusammenbrach.

Ich ging zu ihm und wollte seine Hände in meine nehmen, aber er stieß mich weg.

Er sah mich entschuldigend an, aber auch so, als solle ich jetzt lieber auf Abstand bleiben.

„Ehm..."

Ach mein Bruder war ja immer noch da.

Ich seufzte „Ist okay, Dave, ich komme gleich raus" Ich sah ihn bittend an.

Er gab ein „Okay" zurück und zog dann die Tür hinter sich zu, als er ging.

„Ich wollte grade nicht..." Sofort wandte sich Cam an mich, um sich für das Grobsein gerade zu entschuldigen.

Ich lächelte nickend. „Schon okay."

Er sah mich unsicher an. „Ich... Ich will nicht, dass es jetzt seltsam zwischen uns wird", murmelte er.

Das wollte ich auch nicht, aber ein verpatzter erster Kuss zwischen zwei Brüdern lief leider genau darauf hinaus.

„Dann solltest du dir was überlegen", schlug ich vor, klang versöhnlich.

Er nickte nur, sah zu Boden.

„Also ich geh dann mal zu Dave", meinte ich, da ich es für falsch hielt, einfach wortlos zu gehen.

Ich lief immer noch im Handtuch herum, fiel mir da auf... Oh mann.

Cam nickte nur.

Ich wusste nicht, was ich noch hier tun konnte, ließ ihn deshalb mit einem letzten Seufzen doch stehen und verließ das Zimmer. Wortlos lief ich an Dave vorbei und ging in sein Zimmer, wo ich mich an seinem Kleiderschrank bediente. Eine Hälfte seiner Sachen hatte er ja noch, auch wenn das hier für mich so aussah, als hätte er fast gar keine Klamotten. Wer wusste, so die alle waren...

Kurz nach mit kam Dave rein, als ich mir gerade seinen Hoodie anzog.

„Sorry wegen eben, ich wusste ja nicht, dass dir gerade..." Er wagte es nicht, es auch noch auszusprechen und schaute schuldbewusst auf den Boden.

Ich seufzte, setzte mich neben ihn auf sein Bett. „Schon okay, schätze ich"

Er legte seinen Arm um meine Schultern. „Ich hatte also recht, mh?"

Ich zuckte mit den Schultern. „So in etwa"

Er lachte leicht und küsste meine Schläfe. „ihr seid aber nicht zusammen oder?"

Ich schüttelte den Kopf. „Wir haben uns nicht mal richtig geküsst"

... ich wollte es so sehr, doch seine Reaktion nach der Unterbrechung war ja ziemlich deutlich gewesen.

Dave nickte verstehend. „Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du morgen auf der Beerdigung was sagen willst...", meinte Dave dann.

Ich schüttelte den Kopf. „Was soll ich denn sagen? Dass ich für seinen Tod und den von Mum verantwortlich bin? Dass ich eigentlich unter der Erde liegen sollte und einfach nicht den Mut habe, dafür zu sorgen?"

„Schh" Dave unterbrach mich, indem er mich umarmte.

In diesem Moment brach einfach alles aus mir heraus. Alle Erinnerungen an dieses Haus, an Mum, an den Unfall an meinen Stiefvater, Kate, die ich einfach mögen musste, Dave, dem es scheiße ging, doch mit seinen Drogen durchs Leben kam und Cameron.

Was gab es denn zu ihm zu sagen? Für einen Moment hatte ich geglaubt, es würde endlich alles gut werden, aber jetzt? Jetzt war davon nichts mehr übrig.

Dave legte sich hin und zog mich mit sich.

Ich klammerte mich an sein Shirt und jammerte ihn voll.

Er strich mir über den Rücken, über den Kopf, doch sagte all die Zeit nichts, weil er wusste, dass Worte mir nicht weiterhalten.

Ich schlief weinend in den Armen meines einzig wahren Bruders ein, doch diese Nacht plagten mich wieder Alpträume, wie schon lange nicht mehr.

Cam war dieses Licht, um das Dunkel in meinem Inneren zu bekämpfen, doch was, wenn er mich mit all der Schwärze alleine ließ?

Wenn ich ihm einfach nicht wichtig genug war, um für mich zu kämpfen?

Wenn er mich zwar liebte, aber nicht genug, um alles für mich zu tun?

Denn genau darauf lief es hinaus.

Alles oder nichts.

Cameron oder das schlimmste Leid, das ich je erfahren hatte.

Und diese Entscheidung lag ganz bei ihm.

Das Herz meines Bruders (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt