𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 1.2

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3. März 8:32 Uhr, Café of Good Hope, Halcolne

Ich hatte alles geplant. Ich plante alles, egal wie wichtig es war, was vermutlich eine Persönlichkeitseinstellung war

Und laut meinem Plan war es offensichtlich gewesen, am heutigen Tag nicht den Schulbus zu nehmen, um zur Schule zu gelangen. Es gab zu viele Zeugen. Zu viele Menschen, die mich sehen und damit im schlimmsten Fall verhindern könnten, was ich heute vorhatte. Es gab nur eine Chance. Eine Möglichkeit, um das, was ich vorhatte, wirklich durchziehen zu können. 

Mit Bedacht hatte ich also das Haus wie gewöhnlich verlassen und mich dann nicht weit entfernt von meinem Wohnort in einem bereits geöffneten Café niedergelassen. Niemand kannte mich hier und der morgendliche Betrieb war viel zu hektisch, als dass die beschäftigten Mitarbeiter auf eine schwänzende Schülerin aufmerksam wurden.

Nicht einmal die coolsten Schüler unserer Schule würden freiwillig schwänzen. Viel zu hoch wären die Strafen, die sie zu erwarten hatten. Also schoben sie ihre Ärsche bereits zu Schulbeginn ins Klassenzimmer und waren jedoch mental mehr als abwesend. In den Pausen huschten sie dann heimlich in die Ecken des Schulhofes, die vom Lehrerzimmer aus nicht mit Adleraugen überwachbar waren, um sich nicht legalisierte Substanzen in ihre Körper einzuführen.

Trotzdem wagte ich es heute zu schwänzen. Wahrscheinlich war es mit Abstand das Verbotenste, das ich in meinem gesamten Leben getan hatte. Jedoch war es nicht das Verbotenste, das ich noch tun würde. 

Ich hatte mir von meinem letzten Taschengeld einen Bienenstich und eine heiße Schokolade gekauft und blickte nun interessiert durch die verregneten Fensterscheiben nach draußen in die Stadt. Sie schlummerte noch unter den dicken Wolken und würde erst in einigen Stunden aufwachen und von Menschen durchströmt werden. Solange keine Menschen anwesend waren, schien alles so friedvoll und harmonisch. Ich musste schmunzeln, bei dem Gedanken daran, dass die Welt ohne Menschen so viel schöner aussehen könnte. 

Ich überlegte, mir von den letzten Münzen, die sich in meinem Portemonnaie tummelten, noch einen Donut zu kaufen. Wenn ich meinen Plan komplett durchgezogen hatte, würde ich sowieso nie wieder Taschengeld bekommen. Warum sollte ich das restliche Geld dann aufheben? Es würde mir ohnehin nichts nützen.

Mein äußeres, viel zu dick eingemummeltes Ich lauschte der Musik, die das Radio in das Café übertrug. Kaum ein Kunde schien die gespielten Töne überhaupt zu bemerken. Auch ich nahm nur am Rande wahr, wie der viel zu gut gelaunte Moderator Shape of you von Ed Sheeran ankündigte.

Währenddessen arbeitete mein Gehirn hochkonzentriert daran, jeden einzelnen Schritt meines Plans zum hundertsten Mal durchzugehen. Wenn etwas schief ginge, hätte ich ein riesiges Problem und mein persönliches Ziel nicht einmal annähernd erreicht.

Aber die Menschen stellten sich blind und taub, damit sie von den Missständen, die um sie herum geschahen, nichts mitbekamen. Wer dachte schon, dass die kleine schwache Alice zu dem fähig war, was sie heute vollbringen würde?

Jeder wusste auch, dass ich mich stets zurückgedrängt fühlte und kein Interesse daran hatte, in irgendeiner Weise aufzufallen. Eine solche Aktion würde mich und meine winzige, unbeachtete Person in ein völlig neues Licht rücken. Sie alle würden sich noch schämen. Für alles was sie je getan, gesagt oder sogar nur gedacht hatten.

Bisher sah alles so aus, als würde es funktionieren. Zuhause hatte niemand Verdacht geschöpft. Meine Eltern nicht. Sienna nicht. Und das, obwohl ich nicht einmal in die Richtung der Bushaltestelle gelaufen bin. Mein Schulrucksack war völlig leer gefegt. Essen und Trinken hatte ich nach dem Verlassen des Hauses hinter der Mülltonne abgestellt. Dort sah niemand hin und ich würde es heute nicht brauchen. Federmappe, Blöcke und Schulbücher hatte ich gar nicht erst eingepackt. Wofür auch? Unterricht würde es für mich heute keinen geben. 

Das Einzige, was dringeblieben war, war mein liebstes Buch, welches ich überall mitnehmen würde. Alice im Wunderland von Lewis Carroll. Meine Patentante hat es mir zu meiner Konfirmation geschenkt, obwohl ich nicht einzuschätzen wusste, was es mit christlichen Werten zu tun hatte. Ich würde niemals hinter diese Verbindung kommen. Zum einen ist meine Tante letztes Jahr an Brustkrebs gestorben und zum anderen würde ich heute wahrscheinlich alle zehn Gebote auf einmal brechen, sodass mich der liebe Gott direkt in die Hölle verbannen möchte. Viel mehr liebte ich dieses Buch, weil die Protagonistin genauso hieß wie ich. Ja, das war egoistisch und eingebildet, eine Geschichte nur deswegen zu mögen. Aber insgeheim wäre ich gern wie diese Alice. Weit weg von der Realität und von vielen, nicht menschlichen Wesen bewundert. 

Weiterhin befand sich noch ein letztes, essenzielles Detail in dem riesigen Schulrucksack. Nur dieses allein würde mir die Erfüllung meines Planes möglich machen. Ich bin Jay im Nachhinein unfassbar dankbar für diese kleine Spende. Kleine Spende, große Wirkung.

Ich betrachtete jeden Menschen, der den Laden betrat oder vollgepackt mit Gebäck und Brot wieder verließ. Sie alle waren so naiv. Niemand von ihnen ahnte, was für ein grausames, psychopatisches Biest hinter dem kleinen süßen Mädchen, vergraben hinter Pullover und Schal, schlummerte.

Wie sollten sie auch davon wissen? Erst heute würde es das allererste Mal seinen Weg in die Freiheit suchen. Es besaß keine Gnade, würde keine Rücksicht nehmen und war bereit, alles aus dem Weg zu räumen, um zu einem erfolgreichen Ziel zu kommen.

Mit einem letzten Schluck leerte ich die weiße Keramiktasse und stellte sie behutsam auf dem dazugehörigen Teller ab.

Schnell bezahlte ich, gab großzügiges Trinkgeld und wollte nun das Café verlassen.

Einen letzten Moment hielt ich inne und betrachtete die kleine, boshafte Kreatur vor der gläsernen Ladentür. Das war ich, erfüllt mit einem nie dagewesenen Rachedurst. Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, welches von abartigem Hass und verzweifelter Abneigung gezeichnet war.

Ja, heute würden sie alle bekommen, was sie verdienten. 

____𝚗𝚎𝚞𝚗𝚞𝚑𝚛𝚣𝚠𝚊𝚗𝚣𝚒𝚐.Where stories live. Discover now