𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 3.2

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3. März 9:20 Uhr, Highschool, Halcolne

Diese unsägliche Aufregung hatte ich vergessen, einzuplanen. Vielleicht wäre es besser gewesen. Vielleicht war es aber auch gerade gut so. Das würde sich jetzt schon zeigen.

Allerdings wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich irgendetwas vergessen hatte in meine Berechnungen einzubeziehen. Prinzipiell war das, was ich jetzt vorhatte, illegal, verboten und konnte mit tausend verschiedenen Strafen bestraft werden.

Aber das war mir egal. Zum ersten Mal war mir etwas so richtig egal und es fühlte sich überwältigend gut an.

Ich griff in meinen Rucksack hinein und brauchte nicht lange suchen, bis ich das kleine Goldstück gefunden hatte. Wie hieß die Waffe noch gleich? Ich war mir sicher, Jay hatte etwas von 45 gesagt. Ach ja, Glock 45 hieß sie. Die dazugehörige Munition steckte ich in meine Hosentaschen, um sie im Ernstfall direkt griffbereit zu haben. Danach setzte ich den Rucksack, in dem sich nur noch Alice im Wunderland befand, wieder auf, um keinerlei verdächtige Aufmerksamkeit zu erregen.

Die Waffe selbst steckte ich in die Tasche meines Pullovers. Zuhause hatte ich bereits geprobt. Man konnte von außen nicht sehen, dass sich dahinter eine Pistole verbergen könnte. Erst bei genauerem Hinsehen könnte eventuell jemand bemerken, dass da etwas minimal Verbotenes lauerte. Doch wer schaute mich schon so genau an? Auch verboten stimmte nicht ganz. Waffen waren doch hierzulande erlaubt. Nur noch nicht in meinem Alter. Und selbst wenn jemand sehen sollte, was ich verbarg, war es sowieso schon zu spät. Ich hatte gelernt, besonders schnell zu sein und in Krisen nicht länger zu zögern.

Es war mir natürlich bewusst, dass ich die Zeit immer weiter hinauszögerte. Auf der einen Seite war mir nichts lieber als geradewegs in das Klassenzimmer zu spazieren und meinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Doch ganz tief in mir drin war plötzlich dieses Gewissen, welches mich auch schon bei vorherigen Planungen eingeholt hatte. Was wollte es von mir? All die ganzen Jahre hat niemand ein schlechtes Gewissen mir gegenüber gehabt, wenn mir all diese Sachen nach gerufen wurden.

„Was halte ich noch einmal von dir? Ach ja, am besten Abstand!"

„Dein Niveau ist heute genauso hoch wie die Absätze meiner High-Heels. Oh, meine Schuld. Ich trage heute nur Turnschuhe."

„Wenn kein Platz mehr frei ist, kann sich Alice auch einfach auf den Boden setzen. Der ist den ganzen Dreck wenigstens gewohnt."

Drei Aussagen. Drei Aussagen von tausenden, die mir zugerufen worden sind, rauschten durch meinen Kopf und ließen meinen Puls in die nicht messbare Unendlichkeit ansteigen. Ich zitterte am ganzen Körper. Nun wusste ich es. Der Zeitpunkt war gekommen.

Der Zeitpunkt um endlich die Rache zu bekommen, die ich mir verdient hatte.

Ich hämmerte drei Mal gegen die Tür und trat ohne eine Antwort abzuwarten, in den Klassenraum ein. Dreiundzwanzig Augenpaare musterten mich angespannt und leicht amüsiert. Mr Campbell ließ sich von meiner Präsenz nicht aus der Ruhe bringen und schrieb weiterhin mathematische Gleichungen an die Tafel.

Plötzlich hob sich ein Arm aus den letzten Reihen und ein lästiges Schnipsen ertönte. Reyna wollte mich noch weiter demütigen, indem sie dem Lehrer zusätzlich mitteilte, wer gerade angekommen war.

„Mr Campbell? Alice Mayberry ist gerade gekommen. Und sie ist zu spät. Wir haben nämlich bereits die zweite Stunde."

Darauf folgte selbstverständlich belustigtes Gekreische der ganzen Schüler. All diese Menschen, die ich aus tiefstem Herzen verachtete. Doch ich würdigte sie keines einzigen Blickes. Ich war damit beschäftigt, meinen Mathelehrer geduldig anzuschauen, obwohl in mir alles brodelte und kurz vor der Explosion stand.

Schließlich drehte er sich zu mir herum und musterte mich ebenfalls. Dieser amüsierte Genuss ekelte mich an.

„Na, Alice? Du weißt doch genau, dass das nicht geht." Ironisch lachend schüttelte er mit dem Kopf, als wäre ich ein Kleinkind, dem man gerade einen leichtsinnigen Fehler erklärt. „Dann müssen wir wohl..."

Mit seinen langen Storchenbeinen wandte er sich zum Lehrertisch hin, um einen Eintrag zu verfassen, der für alle Welt festhalten sollte, dass ich eine Regelbrecherin war. Jedoch hatte er nicht damit gerechnet, dass ich schneller war als er. Enttäuschend für einen Mathelehrer.

Ich zückte die Pistole und schoss in Lichtgeschwindigkeit auf den Tisch, sodass die gesamte Klasse inklusive Lehrer erschrocken aufschrie.

„Was wollten Sie sagen?" Nun wusste ich, dass alle mich beachteten. Noch nie hatte ich eine solche Art der Anerkennung von ihnen erhalten. Nein, sie hatten sogar Furcht vor mir. Respekt. Alles, was ich immer haben wollte. Schade, dass ich zu solchen Mitteln greifen musste, um es letztendlich zu erreichen.

Panisch hob Mr Campbell die Hände und sah mir tief in die Augen. All seine eklige Erhabenheit und Arroganz waren verpufft. Es waren die pure Angst und Verzweiflung, die aus seinem Körper sprachen. Gepaart mit verschiedenen Fragen, weil er nicht verstand, wie Alice Mayberry zu so etwas fähig sein konnte. Ich war die Schülerin, die zwar mathematisches Verständnis besaß, aber die er aus dem einfachen Grund nicht ausstehen konnte, weil er bei meiner Klasse beliebt sein wollte, die mich sowieso hasste.

Und genau das war sein Todesurteil.

Ich zielte genau auf die Stelle, an der sein Herz sein sollte. Ob er wirklich eines besaß, konnte ich nicht genau sagen. Ruhig lag die Waffe in meiner linken Hand ich zuckte keine einzige Sekunde und mit keinem Muskel meines Körpers als ich den Auslöser drückte. Ein wohliges Gefühl breitete sich stattdessen in mir aus, als ich sah, wie diese bösartigen Augen eines noch viel bösartigeren Mannes für immer erstarrten.

Vielleicht hat er ja eine Frau? Oder Kinder? Was werden sie wohl tun, wenn sie erfahren, dass ihr Vater in der Schule erschossen wurden? Diese Gedanken beschlichen mich zwar, doch ich schob sie beiseite. Wie es mir ging, interessierte doch auch niemanden.

Die Aufschreie um mich herum schwollen an als sie gemeinsam mit mir den toten Mann auf dem Boden betrachteten. Einige sprangen auf und wollten Mr Campbell helfen. Wenn ich jedoch die Lache seines Blutes unter ihm betrachtete, dann war ich mir ziemlich sicher, dass ihm nicht mehr zu helfen war. Das erste Ziel war erreicht.

„Na? Was ist? Wer traut sich, was zu sagen? Sonst seid ihr doch auch nicht um Worte verlegen." Doch es war ziemlich sicher, dass keiner den Mut aufbrachte, ein Gegenwort gegen mich zu richten.

„Hm... Das hab ich mir gedacht", hauchte düster ich in die Stille hinein, die sich um uns alle hüllte wie ein erstickender Schleier. Alle, die aufgestanden waren, huschten auf ihren Platz zurück, als wären sie dort vor mir in Sicherheit.

„Dann werden wir uns eben andere Sachen überlegen müssen", murmelte ich kaum hörbar und trotzdem für alle klar verständlich vor mich hin. Mit der Pistole fest im Griff ging ich durch die Reihen, um diese verängstigten Menschen noch näher betrachten zu können. Banknachbarn rutschten enger zusammen und Mädchen fassten sich panisch an den Armen, um...? Um was? Was sollte das bringen? Dachten sie ernsthaft, es würde mich umstimmen, hier heute meinen lang ersehnten Traum auszuleben?

Geweitete Augen und fixierte Blicke auf meine Person verstärkte die Ausschüttung von Serotonin in meinem Körper. Es war das wohl beste, was ich mir je vorstellen konnte zu tun. Einmal im Mittelpunkt stehen. Einmal von allen respektiert werden. Wenn auch unter einer Drohung.

Genau so sah meine Rache aus.

____𝚗𝚎𝚞𝚗𝚞𝚑𝚛𝚣𝚠𝚊𝚗𝚣𝚒𝚐.Where stories live. Discover now