𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 2.1

55 12 4
                                    

7. März, 10:50 Uhr, Polizei Revier, Halcolne

Kilian sah zu, wie die aufgehübschte, übertrieben geschminkte junge Frau von Maeve in den Verhörraum geführt wurde. Nach einer kurzen Begrüßung und Vorstellung setzten sie sich gegenüber.

Das grelle Licht der über ihnen hängenden Lampe ließ Kilian erkennen, wofür das Make-Up tatsächlich da war. Es sollte die roten, geschwollenen Flecken inmitten ihres Gesichts überdecken. Natürlich hatte sie geweint. Sienna Mayberry konnte die Taten ihrer Schwester einfach nicht fassen und sah das übermäßige Ausschütten von körpereigenem Salzwasser wahrscheinlich als einzige Möglichkeit, um damit umzugehen.

„Möchten Sie ein Glas Wasser?", fragte Maeve höflich und versuchte, das eigentliche Gespräch irgendwie in Gang zu bringen. Immerhin war das hier kein Privatgespräch sondern ein Verhör. „Was? Oh, ja, natürlich. Danke." Die junge Ms. Mayberry schien geistig ein wenig weggetreten zu sein, also musste Kilian alles dafür tun, um sie bei sich zu behalten.

„Ich... Ich weiß, dass es Ihnen wahrscheinlich schwer fällt, darüber zu reden..." Der rote Faden, den er sich in seinem Kopf zurecht gelegt hatte, mutierte plötzlich zu einem Wollknäuel und stellte sich als nicht auflösbar heraus.

„Entschuldigung, was ich sagen wollte, ist... Denken Sie, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten könnten? Zu dem, was geschehen ist?"

Sienna nahm zunächst dankend das Wasser von seiner Assistentin entgegen, trank einen kurzen Schluck daraus und stellte es elegant vor sich ab. „Ob ich psychisch dazu in der Lage bin, weiß ich nicht... Aber für Alice werde ich es tun. Irgendwer muss sich doch auf ihre Seite stellen, um sie vor all dem bösen Hass zu beschützen, der auf sie einprasseln wird."

Schnell huschte Kilians Blick zu Maeve, die bereits jede Aussage in Windeseile an ihrem winzigen und doch handlichen Laptop mittippte.

„Vielen Dank, dass sie es wenigstens versuchen." Sienna sah Kilian geradewegs in die Augen, sodass es für ihn schwierig war, sich ein Gesamtbild von ihrer Person zu verschaffen. Er verbrachte oft Zeit damit, die Menschen genau zu analysieren. Ihre Verhaltensweisen, ihr Aussehen und natürlich die Sachen, die sie selbst aussagten.

Allerdings schien seine Gegenübersitzende keineswegs Angst zu haben, wie es bei den Menschen, die sonst auf diesen Plätzen saßen, üblicherweise der Fall war. Alles, was die junge Frau, die fast noch wie ein Mädchen schien, prägte, waren die stechend blauen Augen. Solche hatte er bisher nur einmal zuvor in seinem Leben gesehen. Und das war vor wenigen Tagen gewesen und hatte sein Denken für immer verändert.

Sie schaute voller Kühle und Rationalität zu ihm, dass es sich fast so anfühlte, als wäre er in Wirklichkeit der Befragte, auf den eiskalte Dolche in Form von Blicken abgefeuert wurden.

„Wie war Ihr Verhältnis zu Alice?", begann Kilian mit seinen Fragen und versuchte, dem eisigen Blick mit Mühe standzuhalten.

„Ich denke, wir mochten uns beide schon immer. Wir haben verschiedene Interessen im Leben, aber das sollte uns nicht davon abhalten, miteinander klarzukommen." Die Brünette stoppte kurz und starrte an Kilian vorbei auf einen unbestimmten Punkt hinter ihm. Nachdem sie sich kurz gesammelt hatte, setzte sie ihre Rede schließlich fort.

„Natürlich hatten wir Auseinandersetzungen..." Es sah so aus, als würde sie sich gerade an diese Situationen zurückerinnern. „Aber sind diese nicht normal unter Geschwistern?"

Kilian antwortete nicht, sondern notierte sich etwas in seinem winzigen, dunkelblauen Notizbuch mit Ledereinband, welches er einst von seiner Frau geschenkt bekommen hatte.

„Wussten Sie, wie es Ihrer Schwester in der Schule ging? Sie selbst haben diese bereits verlassen, wenn die vorliegenden Informationen stimmen."

Sienna nickte stumm und nahm einen weiteren, kräftigen Schluck des Wassers. „Ja, das ist korrekt. Vor drei Jahren habe ich eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen und stehe kurz vor dem Abschluss. Allerdings habe ich bereits ein Jahr zuvor die Schule verlassen. Hätte ich gewusst, wie schlimm Alice in der Schule von Mitschülern und Lehrern behandelt wird, dann hätte ich alles getan, um sie da rauszuholen, das verspreche ich Ihnen."

„Das glaube ich Ihnen", bemerkte Kilian kurz. „Der Altersunterschied wird Sie daran gehindert haben, auf Ihre jüngere Schwester achtzugeben, nicht wahr?"

Wieder nickte die Frau ihm gegenüber. Sie hatte es mittlerweile aufgegeben, ihm konstant in die Augen zu sehen, was ihm endlich die Möglichkeit gab, seine persönliche Observierung durchzuführen.

Wenn er sich all das Make-Up wegdachte, war Sienna Mayberry eigentlich eine wunderschöne junge Frau. Das Haar hing in Wellen über ihren Schultern und suchte sich seinen Weg hinab. Das schwächelnde Licht über ihnen tauchte ihre schokoladenfarbenen Haare in einen glänzenden Schein und ließ den perfekten Teint ihrer Haut trüben.

Je länger Kilian sie ansah und beobachtete, desto weniger wollte er ihr unangenehme Fragen über ihre Schwester stellen, die sie nur noch weiter belasteten.

Ohne dass es Sienna zu stören schien, drehte er sich zu Maeve, die hinter ihnen saß. Mit einem kurzen Blickkontakt machte er ihr klar, dass er nur noch eine letzte Frage gab, die er der Befragten stellen wollte.

„Können Sie mir sagen, welche Kontakte Alice regelmäßig gepflegt hat? Gab es da welche?"

Ein wenig überrascht schaute Sienna nun wieder nach oben und dem Kommissar direkt in die Augen. „Wenn es Ihnen hilft, für Gerechtigkeit zu sorgen... Nicht weit von unserem Haus entfernt gibt es eine angesagte Bar. Dort arbeitet ein Kellner, mit dem ich vor einiger Zeit befreundet war. Er war der einzige, mit dem sich Alice gelegentlich in ihrer Freizeit getroffen hat."

„Wie hieß dieser Kellner? Es ist möglich, dass wir es in Betracht ziehen werden, auch ihm Fragen zu stellen." Kilian versuchte sich so präzise und höflich auszudrücken, wie er es schaffte, doch gleichzeitig musste er die Aufregung unterdrücken. Denn er hoffte eine neue Spur gefunden zu haben, die ihm beim weiteren Verständnis helfen könnte.

Ebenfalls hoffte er, dass sich Sienna keine weiteren Sorgen machte. So wie sie ihm heute rüberkam, würde sie dringend psychologische Hilfe benötigen. Er würde nachher nochmal mit Maeve darüber sprechen.

„Er... Er hieß Jasper. Jasper Wright, glaube ich."

Kilian bedankte sich für diese Informationen, von denen er schon längst wusste, dass sie relevant für ihn wären. „Sie können gehen. Ich habe alles, was ich von Ihnen wissen wollte."

Wie in Zeitlupe erhob sie sich von ihrem Stuhl und erwiderte schwach Kilians Lächeln, welches er ihr zum Abschied schenkte. „Es wird alles wieder gut. Das verspreche ich."

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, bewegte sich Sienna zur Tür und schüttelte sanft den Kopf. „Nein, Herr Kommissar. Das wird es nicht."

---

Kilian machte sich auch zu Sienna Mayberry eine Notiz und drehte sich erneut zu Maeve um.

„Was meinst du?", fragte er. Stets konnte er sich auf ihre Meinung und Einschätzung zu jedem Geschehen verlassen. Sie wusste immer, was zu tun war.

„Ich weiß nicht... Sie scheint nichts damit zu tun zu haben", lautete die trockene, gedankenverlorene Antwort. Dieses Licht war ihm ebenfalls aufgegangen.

„Wen haben wir noch auf der Liste?"

„Genügend..."

„Ist jemand von denen heute hier oder haben wir heute nur die Familie Mayberry befragt?"

Prüfend sah Maeve durch ihre Unterlagen und scannte sie wie ein Roboter ab.

„Direktor Raven und einen Mitschüler von Alice, soweit ich weiß."

Daraufhin seufzte Kilian. Das bedeutete, sein restlicher Tag würde damit verbracht werden, durch die Stadt zu fahren und Leute aufzusuchen, die etwas mit dem Fall zu tun hatten, denn lange würden die nächsten Gespräche wohl nicht dauern.

„Okay, dann holen Sie doch bitte noch den Mitschüler herein."

____𝚗𝚎𝚞𝚗𝚞𝚑𝚛𝚣𝚠𝚊𝚗𝚣𝚒𝚐.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt