𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 6.3

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3. März 11:22 Uhr, Highschool, Halcolne

Ich konnte noch immer nicht ganz einschätzen, was sie von mir wollte. Eigentlich hatte ich ihr doch nie etwas getan. Trotzdem ging ich langsam und angespannt durch den leergefegten und verwüsteten Gang. Es war deutlich zu sehen, wie viele Schüler panisch hier entlang gelaufen sein mussten. Nun waren wahrscheinlich nur noch zwei im Gebäude. Hinter mir war Alice, die mich wahrscheinlich mit Adleraugen verfolgte. Zudem stocherte sie mit der Pistole in meinem Nacken herum, sodass ich Angst hatte, sie würde jede Sekunde den Auslöser drücken.

Tat sie glücklicherweise jedoch nicht. Plötzlich verschwand die kalte Waffe von meiner Haut und ich drehte mich irritiert zu Alice um. „Was ist?", fragte ich vorsichtig. Ich durfte nichts überstürzen. Natürlich war es mein Ziel, hier lebend herauszukommen. Aber übertreiben war in einer solchen Extremsituation sinnlos. Wegen solchen Sinnlosigkeiten wollte ich mein Leben nicht grundlos aufs Spiel setzen.

„Da rein", kommandierte sie und deutete mit ihrer Pistole auf die Mädchentoilette. Cleverer Schachzug. Dort würde niemand so schnell nachsehen.

Ich nickte und öffnete die Tür. Alice entschied sich für eine der mittleren Kabinen, da diese wahrscheinlich am unauffälligsten war.

Sie ließ mich wieder zuerst hineingehen und bat mir sogar den Platz auf der Toilettenschüssel an. Alice hingegen hockte sich auf den kalten Fliesenboden und verdeckte mit ihren Händen das Gesicht.

Ich achtete stark darauf, ruhig zu bleiben und einen kühlen Kopf zu bewahren. Das bedeutete vor allem, ruhig zu atmen. Unkontrollierte Atemzüge würden mir sicher nicht helfen.

Ja, die Situation war befremdlich. Ich saß gerade auf einer Kloschüssel, während vor mir eine verzweifelte Amokläuferin zusammenbrach, die keine Ahnung was mit mir vorhatte. Es gab keine Möglichkeit, ihr irgendwie zu entkommen, ohne einen gezielten Schuss abzubekommen. Die Kabine war verriegelt und die Waffe fest in ihren Händen. Die einzige Methode, die ich nun anwenden konnte, war Geduld.

Hoffentlich würde sie irgendwann aufgeben und sich stellen. Mehr Auswege blieben ihr sowieso nicht mehr.

Ich meinte sogar, ein sehr leises und unterdrücktes Schluchzen aus ihr herauszuhören. „Und jetzt?", fragte ich erneut, und versuchte Alice so neutral wie möglich anzuschauen. Was würde ihr mein Mitleid oder meine Angespanntheit im Gegenzug bringen?

Sie ließ einen großen Seufzer entgleiten und nahm die Hände vom Gesicht. Tatsächlich waren ihr Tränen übers Gesicht gelaufen. Stumme Tränen der Panik und der Verzweiflung. Ich beschloss, dass sie mir jetzt doch irgendwie leidtat. Auch wenn es mein Gehirn nicht ganz verstehen konnte. Wie konnte ich nur Mitleid mit jemandem haben, der vor nicht einmal einer halben Stunde noch wahllos um sich geschossen hatte. Sie hatte schließlich auch kein Mitleid mit den Verletzten.

„Ich weiß es nicht", schluchzte sie. „So sollte das nicht werden. Das alles nicht. Ich wollte... Ich wollte doch nur..."

Rache. Vergeltung. Was auch sonst?

Ich entschied mich, von der Toilette herunterzukommen und setzte mich zu ihr auf den eiskalten Boden. „Ich verstehe das."

Daraufhin rümpfte sie nur die Nase. Natürlich glaubte sie mir nicht. Konnte ich überhaupt erwarten, dass sie mir glaubte? Wahrscheinlich nicht...

„Nein, wirklich."

„Tust du nicht. Du bist nicht in meiner Situation. Wenn du hier rauskommst, bist du weiterhin ein freier Mensch. Ich nicht."

Ich verzog den Mund zu einem geraden Strich, blickte angestrengt auf den Boden und dachte nach. Wie konnte ich sie denn zum Reden bringen. Wenn ich es schaffte, ihr klarzumachen, wie ausweglos die Situation war, dann würde sie vielleicht von selbst darauf kommen, dass eine Ergebung das einzig sinnvolle war.

Allerdings vernahm ich nun ein kurzes Schmunzeln auf ihren Lippen, welches sofort wieder verschwand als ich den Blick wieder in ihre Richtung hob. Doch es reichte aus, dass ich zumindest für eine Millisekunde eine lächelnde Alice Mayberry sehen konnte. Sie war wirklich hübsch, wenn sie lächelte.

Ich sah sie an und lächelte ebenfalls. Eigentlich tat ich es nur, um sie zu ermutigen, erneut zu lächeln, weil ich das so unglaublich hübsch fand. Leider verzogen sich ihre Mundwinkel kein einziges Stück.

Dann überlegte ich, was wohl der Auslöser ihres Lachens gewesen sein könnte. An dieser Situation war nichts lustig. Niemand hatte einen Witz erzählt und wenn wir diesen Raum und diese Toilettenkabine verlassen würden, würde sicherlich kein Spaß auf uns warten. Zumindest nicht auf Alice. Wie sie bereits gesagt hatte: ich war unschuldig und nach diesem Tag ein freier Mensch.

Dann fiel es mir ein. Es musste mein Gesicht gewesen sein. Der verzogene Mund. Meine sogenannte Denkerpose. Ich versuchte, diese Grimasse erneut nachzuahmen und ich konnte zwar kein Lächeln aus ihr herauskitzeln, dafür allerdings ein Leuchten in ihren Augen. Diese lachten nun für ihre Lippen. Wenn sie mit Gefühlen gefüllt waren, sahen sie gar nicht mehr mörderisch und eiskalt aus. Viel freundlicher. Wie die Augen eines normalen Mädchens, das nicht jeden Tag gemobbt wurde.

„Du siehst sehr hübsch aus, wenn du lachst", wagte ich zu sagen und sah sie geradeheraus an. Es war nicht gelogen.

Auf diese Worte bekam ich es wieder. Das ersehnte Lächeln. Alice blieb zwar stumm und machte noch keine Anstalten, ihre Waffe zur Seite zu legen, aber sie lächelte. Mit diesen Worten hatte ich ihr Herz berührt.

Wenn dieses Lächeln nur wüsste, was für eine schwere Last auf ihm lag. Wir beide wussten, dass wir maximal einige Stunden hier verbringen würden, bevor das Gebäude gestürmt und wir gefunden werden würden. Aber vielleicht war es gerade das, was uns dazu bewegte, uns fast wie Freundinnen zu verhalten. Fast. 

____𝚗𝚎𝚞𝚗𝚞𝚑𝚛𝚣𝚠𝚊𝚗𝚣𝚒𝚐.Where stories live. Discover now