𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 5.2

23 7 0
                                    

3. März 11:03 Uhr, Highschool, Halcolne

Das Einzige, woran ich denken noch konnte, war eine Planänderung. Eine Planänderung, um möglichst viele Menschen in den Tod zu reißen, ohne, dass ich mich selbst in Gefahr brachte. Sogenannte Konfrontation. Eigentlich wollte ich das vermeiden, weil ich nicht gut mit Aufmerksamkeit umgehen konnte, doch offensichtlich war es für Unauffälligkeit längst zu spät. Ich hasste es unfassbar sehr, wenn sich meine Vorhaben ins Nichts auflösten.

Bisher hatte mich keiner in der Menge erkannt. Natürlich nicht. Nach einem Amokalarm waren alle mit Panik erfüllt und wollten schleunigst niemanden mehr in Sicherheit bringen als sich selbst. Egoistische Feiglinge waren sie alle! Nicht einmal um Reyna kümmerte sich nun jemand. Sie hatte doch angeblich so viele tolle Freunde. Anscheinend nicht. Sonst würden die versuchen, ihr zu helfen. Am Ende war sie wahrscheinlich noch viel ärmer dran als ich. Denn ich wusste wenigstens, dass ich hier keinerlei Freunde besaß.

Ich drängte mich weiter in die Mitte der schreienden Menge von Schülern, richtete mich zu voller Größe auf und nahm die Kapuze meines Pullovers wieder ab. Wenige erkannten mich auf Anhieb und machten sich daran, schlagartig die Flucht zu ergreifen. Das bekam jedoch kaum jemand mit. Denn die meisten übersahen mich. Wie immer.

Aber ich wollte nicht länger übersehen werden. Ich war es wert, gesehen zu werden. Genauso wie Reyna und all die anderen. In mir wuchs ein unerklärbarer Neid, den ich noch nie so schmerzhaft stechend in meiner Brust gespürt habe wie heute und jetzt. Es ging einmalig in dieser Schule nur um mich und meine Taten und trotzdem nahm mich niemand wahr. Weil ich selbst ein Niemand war. Das war mein großes Problem.

Ich erhob meine zitternde Hand, in der sich die geladene Waffe befand und zielte ins Nichts, um Aufmerksamkeit zu erregen. Mit geschlossenen Augen und weggedrehtem Kopf drückte ich ab und steckte all die angesammelte Wut, den jahrelang steigenden Hass und entwickelten Neid hinein.

Diese Mischung machte es möglich, dass mich plötzlich auch die letzten Vollidioten erkannten und sprunghaft von meiner Seite wichen. Leider zu spät. Es war mir völlig gleich, wer meine Opfer waren. Ich zielte wahllos auf die Menschen, die sich aufgeregt versuchten von mir zu entfernen. Hier und da gingen Schüler und Lehrer zu Boden. Kleine und große, alte und junge, Mädchen und Jungen. Zwischen ihnen machte ich längst keinen Unterschied mehr. Sie waren alle schuld daran, dass ich so behandelt wurde. Nie hat sich jemand für sie eingesetzt oder Mitleid mit mir gezeigt. Also würde ich keines mit ihnen haben. Heute würde ich alles aufbrauchen, was ich mitgebracht hatte. Ich verschwendete doch keine kostbar erworbenen Ressourcen für die Menschen, denen alles andere auch scheißegal ist.

Neben den getroffenen Opfern fanden sich weitere Freunde und Bekannte, die halfen, sie von mir weg zu tragen. Warum ich nicht eingriff und sie auch anschoss? Das hatte ich nicht nötig. Solche Fälle regelte die Natur für sich selbst. Sie würden sterben. Oder waren eben verletzt. Würden Freunde verlieren. Meine Munition war wertvoll. Ich musste nur danach schauen, dass ich sie mit Bedacht verstreute, sodass sie genügend Schaden ohne viel Aufwand anrichtete.

Da stand ich nun. Mitten im riesigen Schuleingang und um mich herum viele Menschen, die panisch schreiend und kreischend vorbeiliefen, sodass meine Ohren fast zu bluten begannen. Keiner griff ein oder wagte es, mich anzufassen oder mir die Waffe wegzunehmen. Dabei wäre es in diesen wenigen Minuten ein Kinderspiel gewesen. Ich stand einfach nur da, starrte mit einem benommenen Blick irgendwo in die nicht erfassbare Ferne und ließ vor meinem geistigen Auge all die Momente passieren, in denen ich bis auf die Knochen gedemütigt wurde. Auch wenn man es als Außenstehender kaum glauben mag – ich erinnere mich an jeden einzelnen, noch so harmlosen Vorfall.

Und irgendwann würden sie sich auch wieder daran erinnern, was sie mir angetan haben. Vielleicht haben sie es ja auch verdrängt.

Und dann werden sie merken, dass mein empfundener Schmerz viel viel größer ist als das, was sie heute durchmachen.

Er ist durch nichts gutzumachen. Keine Entschuldigung, kein nettes Wort – nicht einmal ehrliche Reue kann mir noch beistehen.

Nur die kaltblütige und rücksichtslose Rache kann das. 

____𝚗𝚎𝚞𝚗𝚞𝚑𝚛𝚣𝚠𝚊𝚗𝚣𝚒𝚐.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt