𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 5.3

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3. März 11:10 Uhr, Highschool, Halcolne

Manchmal fragte ich mich wirklich, was in den Köpfen mancher Menschen so alltäglich vorging und weshalb sie genauso handelten wie sie es taten und nicht gerade anders. Schließlich sollte es doch immer einen anderen Weg geben, um seine Probleme zu lösen außer mit purer Gewalt, die sich in einem Amoklauf äußert.

Ich mochte schon immer solches psychologische Zeug. Wahrscheinlich kam ich damit auch schon immer meinem Vater nahe. Er musste sich mit diesen Menschen tagtäglich befassen. Mit Menschen wie Alice.

Irgendwie tat sie mir leid. Aber irgendwie konnte ich sie auch nicht verstehen. Natürlich waren Reyna und einige andere die Auslöser dafür, dass sie fast ihr gesamtes Leben lang gemobbt wurde. Wir anderen konnten jedoch herzlich wenig dafür, dass Reyna ihre besonderen Launen hatte. In solchen Momenten fragte ich mich, weshalb ich mit einer Mobberin befreundet war und wieso ich diese Freundschaft nicht längst aufgegeben hatte. Ich jedoch konnte mich an kein einziges Mal erinnern als ich gelacht habe oder ihr selbst Schaden zugefügt habe. So war ich nicht!

Während ich mit der restlichen Schülermenge, die sich noch auf den Beinen halten konnte und noch nicht gestorben war durch das Gebäude rannte, in der Hoffnung von den weiteren grausamen Schüssen verschont zu bleiben, kam mir ein einschneidender Gedanke. Reyna. Sie lag im Klassenzimmer. Da, wo Alice sie niedergeschossen hat als wir alle mitleidslos geflüchtet sind. Auch ich. Ich war wirklich eine furchtbare Freundin. Und Mitläuferin... Vielleicht war ich doch nicht so unschuldig wie ich glaubte. Ich blieb mitten in einer unendlich weiten Traube aus Schülern stehen, um nachzudenken. Der Zeitpunkt und der dafür gewählte Ort hätten nicht schlechter und unpassender gewählt sein können.

Um meinem schlechten Gewissen gegenüber Reyna entgegenzuwirken, drängte ich mich gegen den Sturm aus der Fluchttraube heraus und suchte mir meinen eigenen Weg durch den Keller. Dort war niemand zu sehen. Weder Alice noch überreagierende Schüler und Lehrer. Vermutlich hatten sie allerdings auch auf wichtigere Dinge zu achten. Ich wollte gar nicht so genau wissen, wie viel Munition sie dabei hatte, denn es knallte ununterbrochen über mir.

Durch den Keller war es einfach, an anderen Stellen unserer Schule über Treppen wieder nach oben zu kommen und so machte ich mich auf den Weg zu unserem Klassenzimmer in einem wahrscheinlich längst verlassenen Gang. Es fühlte sich grundlos falsch an, an einem normalen Schultag völlig allein durch einen Gang zu spazieren, der sonst von Schülern bewohnt wurde. Ein kurzer Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass normalerweise um diese Zeit Pause war. Natürlich würden hier kleinere Schüler herumrennen oder ältere an ihren Handys herumtippen.

Es war einfach falsch. Verboten. Wie die Ruhe vor dem Sturm. Denn langsam verebbten auch die Pistolenschüsse, was generell ein gutes Zeichen sein konnte. Nicht musste. Wer wusste schon, was Alice noch alles aus ihrem Rucksack zaubern konnte, was schießen oder anderweitig Menschen verletzen oder sogar töten konnte?

Nur ganz wenige Leute, die anscheinend ebenso schlau gewesen waren wie ich, hielten sich hier oben auf. Erst nach genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass sie sich hinter einigen offengelassenen Türen oder hinter Spinden versteckten. Am besten wäre es wahrscheinlich, wenn ich mich mit ihnen zusammentäte. Gemeinsam könnten wir Reyna holen – sofern sie noch lebte – und dann die Polizei alarmieren. Oder war sie schon informiert? Ich hatte doch keine Ahnung. Niemand hatte eine Ahnung.

Es stellte sich heraus, dass die Schüler zwei Jahrgänge unter mir waren und sich panisch versteckt hatten. Nachdem ich ihnen klargemacht hatte, dass ich nicht böse war und auch keine Waffe besaß, schlossen sie sich mir an. Zum Glück. Denn so wanderte ich nicht völlig verlassen durch das Schulgebäude.

Doch als wir gerade um die Ecke biegen wollten, die in die Richtung von Reyna führte, stolperte ich plötzlich aus dem Nichts und etwas unangenehm Kaltes drückte sich mit aller Kraft gegen meinen Hals. Es war eine Pistole. Und vor mir stand eine schockierte Alice Mayberry. 

____𝚗𝚎𝚞𝚗𝚞𝚑𝚛𝚣𝚠𝚊𝚗𝚣𝚒𝚐.Where stories live. Discover now