𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 6.2

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3. März 11:16 Uhr, Highschool, Halcolne

Als ich die Pistole gegen ihren Hals drückte, brauchte ich eine Weile, um zu realisieren, wer da gerade vor mir stand. Jane Colebrook. Zurückhaltende Schülerin. Lehrerliebling. Reynas Freundin. Allein der letzte Punkt reichte aus, um sie zu hassen.

„Was wolltest du denn hier oben?", fragte ich leise und bedrohlich, um ihr Angst einzujagen.

„Ich... Verstecken..." Mehr viel ihr offensichtlich nicht ein. Lächerliche Ausrede.

„Du wolltest Reyna holen. Hör auf mich zu verarschen! Aber hoffentlich ist sie längst gestorben. Alles andere würde ich für ein medizinisches Wunder erklären." Nach meinen Worten zuckte das ohnehin schon zarte und kleine Mädchen zusammen. Ich überlegte, ob sie mir jemals etwas angetan hat außer purer Ignoranz und Zurückhaltung. Bereits im Klassenzimmer hatte ich darüber nachgedacht, hatte allerdings keine passende Erinnerung gefunden.

Laut allem, an das sich mein Gehirn erinnerte, schien sie immer freundlich gewesen sein. Sie hat sich zwar nicht liebend gern mit mir unterhalten, aber mich auch nicht beleidigt. Jane hatte hohe Chancen, den Tag heute zu überstehen. Lebend.

Doch gerade als ich sie gehen lassen wollte, fiel mir wieder eine Erinnerung ein. Eine, in der ihr schallendes und lautes Gelächter nicht zu überhören war.

Wie viel Zeit dazwischen lag? Ich konnte es auf den Tag genau sagen. Eine Woche vor meinem zwölften Geburtstag. Also am 5. Oktober vor fünf Jahren. Meine Mutter hatte sich damals in den Kopf gesetzt, dass ich unbedingt eine Geburtstagsfeier veranstalten soll und die Frage war natürlich, wen ich einladen sollte. Denn ich hatte auch zu diesem Zeitpunkt keine Freunde.

Ich hatte zuhause fleißig Einladungskarten geschrieben und hatte mir akribisch Gedanken darüber gemacht, wen ich einladen wollte. Heraus kamen lächerliche drei Leute.

Einer davon war Adrian, mein Banknachbar. Er entschuldigte sich überschwänglich und behauptete, dass seine Verwandten aus Frankreich zu Besuch kämen. Es stellte sich heraus, dass sie wirklich da waren und er mich nicht angelogen hatte.

Die zweite Person war Esha. Sie war ein indisches Mädchen und schien auch nicht viele Freunde in der Klasse zu haben. Doch als ich sie einlud, schaute sie mich an, als wäre ich ein Alien von einem fernen Planeten, das gerade ihre gesamte Familie verschlungen hatte.

Danach blieb noch eine letzte Person übrig. Jane Colebrook. Sie hatte mir nie etwas getan, war manchmal sogar freundlich und da sich sowieso alle über Reynas krasse Übernachtungsparty unterhielten, dachte ich, dass der Moment perfekt war.

Ich streckte Jane die Karte entgegen, als ich sie ganz allein auf dem Gang vor unserem Klassenzimmer traf. Sie wirkte sehr geschockt und wusste nicht wirklich, was sie sagen sollte. Wahrscheinlich hatte sie von Anfang an keine Lust gehabt die Einladung anzunehmen. Doch sie wollte mir auch nichts Böses sagen. Das erkannte ich an ihren kristallklaren Augen. Andererseits waren da all ihre coolen Freunde, die nun den Weg zu uns gefunden hatten.

Reyna nahm Jane die Karte aus den Händen und las sie belustigt vor allen vor. Dann drängte sie sich an dieser vorbei und sah nach oben. Denn ich war ziemlich groß für mein Alter, weshalb alle meine Mobber zwangsläufig zu mir aufschauen mussten.

„Ich weiß ja nicht wie dünn die Luft da oben ist, du Vollidiotin, aber du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass meine beste Freundin Jane zu deiner lächerlichen Party kommt. Was wollt ihr denn dann machen? Topfschlagen? Kuchen backen? Du wirst doch nicht zusagen, oder?"

Sie wandte sich amüsiert an Jane, die daraufhin erstarrte. Es war eine ernst gemeinte Frage. Allerdings hatte sich Jane in diesem Moment entschieden, gegen mich zu sein.

„Ich soll Alice zusagen? Nee, ganz sicher nicht." Dazu lachte sie sehr gekünstelt, um ihre Freunde nur noch mehr zu überzeugen. Ja, es war gespielt. Aber es tat weh und versetzte mir einen unendlich tiefen Stich ins Herz. Dieser Tag hinterließ eine weitere Wunde, die niemals geschlossen werden würde. Weder durch gute Taten noch durch entschuldigende Worte.

Ich weiß noch, dass ich meinen Geburtstag sehr einsam verbracht habe. Sienna war an meiner Seite und damit wir nicht ganz allein waren, hatte sie ein paar ihrer Freunde eingeladen, die mich zwar nett behandelten, aber denen anzumerken war, dass ich für sie ein Kindergartenkind war. Nur Jay war anders. Das war der Tag, an dem ich ihn das erste Mal getroffen habe...

Mit dem schallenden Gelächter in den Ohren wurde ich langsam zurück in die Realität versetzt. Ich brauchte einen kurzen Moment, um mich wieder daran zu erinnern, wo ich war. In der Schule. Ich hatte einen Amoklauf geplant und gerade hielt ich meine Waffe an den Hals des Mädchens, von dem ich lange geglaubt hatte, ich könnte ihr vertrauen. Überraschenderweise bewegte sie sich nicht und hatte auch nicht angefangen, sich gegen mich zu wehren. Stumm stand sie da und blickte in meine Augen.

„Und jetzt?", fragte sie, als sie realisierte, dass ich nun geistig wieder anwesend war.

Das fragte ich mich auch. Mein gesamter Plan war irgendwie nicht ganz aufgegangen. So hatte ich mir das Ergebnis dieses Amoklaufs nicht vorgestellt. Ich hatte alles versaut. Die Polizei war schon längst verständigt worden. Darüber könnte ich auch eine Wette abschließen.

Und nun?

Sollte ich mich ergeben?

Sollte ich mich umbringen?

Sollte ich Jane umbringen?

Sollte ich überhaupt jemanden umbringen?

Ich wollte nicht ins Gefängnis. Ich wollte nicht verurteilt werden. Alles, was ich hier tat, beruhte allein auf Hass und Verzweiflung. Ich war auch nicht psychisch krank oder eingeschränkt. Und wenn es doch der Fall war, dann sind sie alle daran schuld. Denn sie haben mich krank gemacht.

Das, was mir nun durch den Kopf ging, war reiner Verteidigungmechanismus. Wie in der Natur. Ich streckte meine rechte Hand aus und zog Jane ganz dicht zu mir heran, die Pistole fest auf sie gerichtet. Einige andere, die mit Jane hier oben waren, blickten mich entsetzt an. Sie dachten wirklich, ich würde sie hier und jetzt umbringen.

„Haut ab!", sagte ich zunächst in einem ganz normalen Ton. Doch sie machten keine Anstalten, sich auch nur zu bewegen.

„Haut endlich ab, verdammt nochmal!", schrie ich sie an. Da ihnen ihr eigenes Leben anscheinend doch wichtiger war als das von Jane, nahmen sie die Beine in die Hand und entfernten sich von mir.

„Geht doch", murmelte ich, darauf bedacht, Jane nicht spüren zu lassen, wie verzweifelt ich im Inneren wirklich war.

Ich ließ sie wieder los und schubste sie vor mich. „Los komm, lauf vorwärts. Ich sag dir schon, wo wir hin müssen."

____𝚗𝚎𝚞𝚗𝚞𝚑𝚛𝚣𝚠𝚊𝚗𝚣𝚒𝚐.Where stories live. Discover now