𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 4.2

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3. März 10:00 Uhr, Highschool, Halcolne

Ich hatte irgendwann mein Zeitgefühl komplett verloren. Natürlich fand ich es auf der einen Seite mehr als amüsierend, endlich dabei zusehen zu können, wie viel Angst und Respekt meine Mitschüler plötzlich vor mir hatten, wenn ich mit einer Waffe vor ihnen stand. Doch andererseits holte mich immer wieder das Gewissen ein und betonte, dass nicht alle die Schuld an meinem Elend trugen.

Bei diesen Gewissensanflügen rechtfertigte ich mich damit, dass sie alle etwas dagegen hätten tun können. Jeder, wirklich jeder wusste, dass ich gemobbt wurde. Sogar meine Lehrer. Und keiner hat je auch nur eine Kleinigkeit unternommen, um mir beizustehen.

Nachdem ich die anwesenden Schüler genügend bedroht und eingeschüchtert hatte, ließ ich mich mit einem triumphierenden Lächeln auf dem Stuhl nieder, auf dem vor ein paar Minuten noch Mr Campbell gesessen hatte. Schade, dass es ein unglücklicher Zufall war, der ihn eingeholt hatte. Mit noch viel größerer Freude machte ich es mir bequem und streckte meine langen Beine aus, um mit der Spitze meines Schuhs den regungslosen Körper vor mir leicht belustigt anzustoßen. „Tot" stellte ich fest und ließ meinen Blick weiter durch das Klassenzimmer schweifen.

„Ist was?", fragte ich gespielt überrascht und sah ein letztes Mal auf mein erstes Opfer hinab. Er war nur das erste von vielen. Heute würden noch genügend Menschen folgen, die mir in den vergangenen Jahren das Leben zur Hölle gemacht haben. Und ein Mensch von den vielen saß passenderweise sogar im Klassenraum.

„Reyna?", rief ich sie übertrieben freundlich auf. „Komm doch bitte nach vorn." Sie rührte sich jedoch kein Stück.

„Du hörst doch deinen Namen so gern, oder nicht? Los, Reyna, du hast doch nichts zu verlieren." Nun krallte sie sich an ihrer Banknachbarin fest. Ich wusste nur, dass sie Jane hieß und zu Reynas Mitläuferinnen gehörte. Da sie direkt neben ihr saß, musste ihr sogar das besondere Privileg zukommen, ihre beste Freundin zu sein. Sie hatte bestimmt auch den ein oder anderen Witz über mich gemacht. Auch in meiner Gegenwart. Wenn ich in Ruhe nachdenken könnte, fiele mir sicherlich ein passendes Beispiel ein.

„Komm jetzt sofort nach vorn oder ich mir rutscht mein Finger aus." Ich zeigte auf den Auslöser meine Waffe. „Und dann könnte es die tolle Freundin neben dir treffen. Und die hinter dir. Oder vor dir." Alle Angesprochenen erstarrten augenblicklich, als sie darauf schließen konnten, dass sie gemeint waren. Jane wandte ihren Kopf mutig an ihre Freundin und der Blickkontakt zwischen ihnen schien Reyna danach die Augen zu öffnen.

Mit zusammengepressten Lippen erhob sie sich von ihrem Platz, wagte es allerdings noch nicht, nach vorn zu gehen. Heute hatte sie einen besonders engen und kurzen Minirock angezogen. Natürlich nur, um die ganzen Jungs zu beeindrucken. Das war so lächerlich!

Während sie Schritt für Schritt nach vorn schlich, richtete sie noch ihren grauen Oversized-Pullover, der ihren traumhaft schlanken Körper verbarg. Dieses ganze Make-Up im Gesicht, die künstlich gelockten, blonden Haare und die hochhackigen Lackstiefel ekelten mich so an und betonten nur noch mehr die Arroganz dieses Mädchens. „Schaut nur, Reyna Chadwick muss sich noch zurechtmachen, bevor sie geradewegs in den Tod marschiert. Wie wärs? Wollen wir noch eine kleine Schminkpause einlegen, damit du noch besser gestylt bist?"

Während Reyna beschämt einen Schmollmund zog und auf den Boden blickte, konnte ich doch die Bewegung der Lachmuskeln in einigen Gesichtern wahrnehmen. „Lustig, nicht? Das findet ihr lustig? Wie ich die demütige, die mich mein ganzes Leben lang gedemütigt hat? Feige Hunde seid ihr! Ihr seid kein Stück besser als sie, hört ihr?" Alle, die auch nur den Hauch eines Lächelns zu verzeichnen hatten, schreckten hektisch zurück und hatten sogar wahrscheinlich befürchtet, ihr Leben würde mit einer Kugel im Kopf enden. Aber nicht jetzt. Erst hatte ich meinen Spaß mit Reyna. Darauf hatte ich mich schließlich besonders gefreut.

Endlich hatte sie es in ihren Stöckelschuhen geschafft, vor mir zu stehenzubleiben. Inzwischen war ich ebenfalls aufgestanden und blickte mit einem weiteren, teuflischen Lächeln auf sie herab. Sie, ich - alle hier wussten genau, was nun passieren würde.

Die emotionslose Augenpartie weitete sich um ein Vielfaches und schien stumm nach Gnade zu flehen. Doch das war vermutlich das Einzige, das ich ihr niemals geben würde.

„Sprich dein letztes Gebet, Reyna", hauchte ich so böse in ihr Ohr, dass ich fast Angst vor mir selbst hatte. Belustigt schlich ich um sie herum, wie eine Raubkatze um ihr Opfer, nur um den Moment auszuwählen, in dem sie sich am sichersten fühlte. Mit meiner freien, rechten Hand betastete ich ihre Haare, Hände mit überproportional langen Fingernägeln und schließlich streichelte ich sanft über ihr Gesicht, als wäre ich insgeheim auf ihrer Seite. Statt weiter zärtlich zu sein, holte ich aus und gab ihr eine Ohrfeige als Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte. Wenn ich sofort anfing, war doch die Freude viel zu schnell verflogen.

Ich suchte mir einen geeigneten Punkt für den ersten Schuss aus, als ich es hörte. Die Klassenzimmertür flog auf und ein Schüler rannte bereits heraus in die Freiheit, die ich ihm und den anderen eigentlich verwehren wollte. Ich hatte keine Ahnung wer es war. Allerdings konnte ich nun sehen, wie alle anderen ihm folgten. Auch Reyna wollte meine kurzweilige Überraschung ausnutzen, jedoch schaffte ich es, sie an den langen Haaren festzuhalten, sodass sie kurz und schmerzvoll aufschrie.

Wie eine überlegene Gebieterin ließ ich sie los und sie prallte auf dem Boden auf und schaffte es, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen. „Du bist doch krank", hauchte sie leise in die bedrohliche Luft hinein. Jetzt durfte ich mich nicht aus der Konzentration bringen lassen. Also ignorierte ich ihre Worte und betrachtete mein hilfloses Opfer viel lieber.

Da lag sie. Meine größte Peinigerin. Anstatt gnädig zu sein und ihr einen Schuss in den Kopf zu gewähren, zielte ich irgendwo auf die Magengegend. Sie schrie ein weiteres Mal auf und war noch in ihrer Schockstarre gefangen, bevor sie realisierte, dass das Blut bereits aus ihrem Bauch herausquoll.

„Viel Spaß beim Verbluten, Reyna Chadwick", fauchte ich in ihre Richtung, bevor ich mit Rucksack und erhobener Pistole das Zimmer verließ und sorgfältig die Tür hinter mir schloss. Die guten Manieren hatte ich schließlich nicht verloren.

Danach bog ich in den Gang ein, in dem eine nicht zählbare Menge an Schülern panisch umherrannte und gar nicht bemerkte, wie ich mich unter sie mischte und „Dann muss ich eben andere Seiten aufziehen" vor mich hinmurmelte.

Dabei war mein einziger Gedanke in diesem Moment folgender: Scheiße, es läuft gerade nichts nach Plan. 

____𝚗𝚎𝚞𝚗𝚞𝚑𝚛𝚣𝚠𝚊𝚗𝚣𝚒𝚐.Where stories live. Discover now