𝚔𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 9.1

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7. März, 17:20 Uhr, Leader Street, Halcolne

Kilian betrat die Wohnung, nachdem Maeve ihn abgesetzt hatte. Durch ihre gleichen Arbeitszeiten hatten sie sich angewöhnt, eine Fahrgemeinschaft zu bilden. Eine Woche holte Maeve ihn ab und fuhr zur Arbeit und die andere Woche handhabten sie es genau umgekehrt.

Sofort stieg ihm der Geruch von Pizza in die Nase. Oh, er liebte Pizza. Wahrscheinlich hatte Jane diese sogar selbst gemacht. Denn seine Frau arbeitete heute in der Spätschicht und deshalb war seine Tochter an der Reihe mit Abendessen vorbereiten. Als er die helle und offene Küche betrat, fand er Jane, wie sie vor dem Ofen hockte und die Pizza beim Backen zuschaute.

„Hey, Jane!", begrüßte Kilian sie und sie rappelte sich auf, um ihn zu umarmen. Das hatte sie lange nicht mehr getan. Das letzte Mal vielleicht als sie dreizehn Jahre alt war.

Sie machte sich los und zeigte auf den Ofen. „Schau, die Pizza ist gleich fertig. Dann können wir auch gleich zusammen essen."

Hastig machte sie sich daran, Besteck und Teller aus den Schränken zu nehmen und im benachbarten Esszimmer zu verteilen. Kilian war ziemlich überrumpelt vom plötzlichen Tatendrang seiner Tochter und flüchtete zurück zum Eingang, um seinen Mantel abzulegen und die Schuhe zu wechseln.

Als er sich in das Esszimmer setzte, kam Jane bereits mit dem fertigen Abendessen dazu und stellte den riesigen Teller zwischen sie beide, sodass sie sich gegenübersaßen. Dabei fiel ihm etwas an ihrem Äußeren auf.

„Schon wieder dieser Pullover, Jane? Den hast du doch schon seit vier Tagen an. Du trägst doch sonst nichts so lange." Dankend nahm er den Teller mit seinem Pizzastück entgegen, erwartete allerdings noch immer eine Antwort.

„Naja... Nachhaltigkeit wird heutzutage großgeschrieben." Eine Antwort, die die normale Jane niemals geben würde. Da war sich Kilian mehr als sicher. „Und deswegen trägst du den Pullover, den du am Tag des Amoklaufes anhattest zufällig zum ersten Mal länger als üblich? Hör auf, ich kenne dich."

„Tust du eben nicht", reagierte sie gereizt und stopfte sich ein Stück ihrer Pizza in den Mund, um nicht sofort weiterreden zu müssen.

„Dann hilf mir dabei, dich zu kennen! Ich will doch nur verstehen, was vorgefallen ist! Weißt du was ich heute den ganzen Tag getan habe?"

Weiterhin kauend schüttelte sie mit dem Kopf.

„Ich habe versucht, zu verstehen. Und zwar Alice. Ich habe ihre Mutter und ihre Schwester befragt, Adrian und Reyna, ihre Freund Jay und sogar Ivy Bluebird. Warum habe ich es getan? Weil ich nachvollziehen wollte, warum Alice so gehandelt hat. Und weißt du noch etwas? Ich habe versucht herauszufinden, was zwischen dir und Alice gewesen ist. So geht niemand mit einer Amokläuferin um, die einen mit dem Tod gedroht hat."

Jane sah Kilian nun tief in die Augen. „Wer sagt, dass sie mir je mit dem Tod gedroht hat? Das ist eure schwachsinnige Interpretation. Von allen Menschen, die in der Schule rumgelaufen sind, war ich wahrscheinlich die letzte, die sie hätte umbringen wollen."

Kilian seufzte. „Okay, und was war dann zwischen euch?"

Sie zuckte mit der Schulter, als ginge sie das alles gar nichts an. „Sag ich dir bestimmt nicht."

„Ach, Jane. Tu es doch für Alice. Bitte." Kilian hatte nicht geahnt, dass die härteste Herausforderung dieses Tages die Befragung seiner eigenen Tochter darstellen würde.

„Wieso? Es ist doch jetzt eh alles egal. Alle sehen sie als die Schuldige, weil sie Leute umgebracht hat. Und keiner denkt auch nur ansatzweise daran, mal auf die Leute zu schauen, die ihr das angetan haben." Kilian konnte erkennen, wie sie eine Träne verlor und den Rest hinter ihrer Fassade versteckte.

„Leute wie Reyna?"

„Reyna kann mich mal! Die ist als Freundin für mich gestorben!"

„Warum?"

„Darum."

„Vor ein paar Tagen warst du noch gut mit ihr befreundet und hast abends noch das ein oder andere von ihr erzählt. Was hat sich daran geändert?"

Jane wich seinem Blick plötzlich aus und lieferte eine sehr unzureichende Erklärung. „Weil ich erkannt habe, was für ein Monster sie in Wirklichkeit ist."

„Das ist nicht alles", sagte Kilian und stand auf, nachdem er gerade einmal ein einziges Stück Pizza gegessen hatte und sich auch nicht im Geringsten satt fühlte. „Aber gut, wenn du dich mir nicht anvertrauen möchtest, muss ich eben weiterarbeiten, bis ich etwas Brauchbares zustande bekomme." Er war gerade dabei, das Zimmer zu verlassen, als Jane ebenfalls aufsprang. Er kannte seine Tochter einfach zu gut.

„Warte!"

„Ja?"

Sie hielt knapp vor ihm an und hob ihre Augen zu seinen. „Also... Alice und ich... wir haben uns unterhalten. Ich habe ihr Sachen aus meinem Leben erzählt und sie anschließend gefragt, wie es bei ihr läuft. Und sie hat... Sie hat so ein schreckliches Leben gehabt, das hat sie einfach nicht verdient. Sie ist so eine wundervolle Person, aber niemand kann das sehen."

Jane begann nun mit Weinen und warf sich ihren Vater in die Arme. Er hielt sie fest und streichelte sanft ihren Hinterkopf. Wann war sie nur das letzte Mal so emotional ihm gegenüber gewesen. Was immer auch passieren würde. Er würde nun alles daran setzen, ein guter Vater zu sein. Einen, den seine Tochter verdiente. Denn anhand von Alice hatte er gesehen, was passierte, wenn man ohne gute Eltern aufwuchs. Davor wollte er seine Jane beschützen. Er wollte sie vor allem beschützen.

Nun begann sie in seinen dünnen Pullover, den er trug zu nuscheln. Es war sehr leise und undeutlich. Doch Kilian konnte jedes einzelne Wort verstehen. Klar und deutlich, als hätte sie Alice in sein Ohr geschrien.

„Ich liebe Alice und ich habe sie geküsst."

Mehr musste sie gar nicht erzählen. Kilian wusste genug, um sich ein Bild darüber bilden zu können. Es erklärte alles. Weshalb Jane nicht darüber reden wollte und das Thema Alice komplett aus ihrem Leben zu verbannen versuchte.

„Danke, Jane. Danke, dass du dich mir anvertraut hast", antwortete er als Reaktion auf ihren Satz, obwohl ihm tausende verschiedene Gedanken durch den Kopf rasten.

„Ich hab dich lieb, Dad", schniefte sie.

„Ich dich auch, mein Schatz", flüsterte er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, das sie nicht sehen konnte. Er hatte seine Jane wiedergefunden.

____𝚗𝚎𝚞𝚗𝚞𝚑𝚛𝚣𝚠𝚊𝚗𝚣𝚒𝚐.حيث تعيش القصص. اكتشف الآن