3. Antwort

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Meine liebe Betty

Du kannst mir glauben, ich wollte dir in diesem Brief wirklich einmal etwas erfreuliches berichten, ich hätte dir so gerne erzählt, dass ich die Challenge erfolgreich gemeistert habe und ich war ehrlich sogar auf einem guten Weg dorthin, aber ich habe wieder versagt, mir ist etwas passiert, was ich nicht wirklich definieren kann, weil es für mich irgendwie unerklärlich ist, andere würden es wohl Panikattacke nennen und dieser Begriff trifft es denke ich ganz gut.

Eine Panikattacke für mich bis jetzt etwas vollkommen fremdes.

Einzig mein Kreislauf ist schon ab und zu kollabiert, wovon du ja weißt, aber das ist garantiert nicht mit so einer Panik zu vergleichen.

Glaube mir, das ist einfach nur Horror und ich mag ehrlich gesagt gar nicht darüber nachdenken, aus gutem Grund, denn sofort bekomme ich Angst – Angst vor einer erneuten Panik wie der diesen.

Angst, dass mir dieses Mal niemand hilft, mich stützt, mich in die Arme schließt, mich nach Hause bringt.

Mir ging es noch nie so wie dir, weil ich die Hilfe fremder Menschen noch nie benötigt habe.

Du warst es immer, deren Körper ab und zu schlapp machte, diejenige, die Menschen benötigte, Menschen die helfen, die aufmuntern, die nicht den Mut verlieren.

Inzwischen habe ich selbst gelernt, es gibt wenige Menschen dieser Art, sehr wenige, ich musste es am eigenen Leib erfahren.

Gezählt wie viele Leute an einem spuckenden Mädchen am Straßenrand vorbeigefahren sind, das habe ich nicht, aber vollkommen egal ob es 10 oder gar 50 waren, jeder der nicht anhält ist einer zu viel, einer zu viel mit einem kalten Herz, einer der keine Zeit hat, nicht kapiert wie wichtig eine solche Hilfe ist und wie reich er bei Gott für eine solch winzige Hilfe belohnt wird.

Du bist damals auf dem Weg von der Schule nach Hause zusammen gebrochen, vom Fahrrad gefallen, und ich weiß nur zu gut, du warst meiner Oma bis zuletzt dankbar, dankbar dafür dass sie dich gerettet hat und ich bin das auch, dankbar, weil du sie sonst nie kennen gelernt hättest, du hättest ab diesem Zeitpunkt nicht mindestens einmal die Woche meine Oma besucht, lange bevor wir uns überhaupt kennen gelernt haben und damit wäre ich auch niemals auf dich gestoßen. Als wir umzogen, ich bei meiner Oma in der Küche stand, ihr beim Kochen zugesehen habe und du dann plötzlich aufgetaucht bist, damals mit noch langen Haaren, fröhlich pfeifend. Deine Krankheit hat man dir nicht angesehen, nur deine Lebensfreude – die definitiv.

Niemand hätte mir über den Schmerz, der die Trennung meiner Eltern verursachte und ebenso mein Schweigen hinweggeholfen – niemand!

Nur du hast das geschafft, weil du damals zusammen gebrochen bist und meine Oma dich gerettet hat. Es ist verrückt und bis jetzt war mir das nicht wirklich klar, aber genau diese Situation, dein Zusammenbrechen, die folgende Hilfe und deine Dankbarkeit, die dich dazu veranlasste pfeifend und singend durch Omas Wohnungstüre zu spazieren. Immer und immer wieder, bis du da eines Tages auf mich gestoßen bist. Auf ein schüchternes, zurückhaltendes und vor allem stummes Mädchen.

Das war der Anfang unserer gemeinsamen Freundschaft. Das erste Kennenlernen, das aus was alles entstanden ist.

Und jetzt habe ich diese Erfahrung selbst gemacht.

Auch mir wurde geholfen, mir wurde der Arm um die Schulter gelegt, mir wurde die Jacke gereicht, ich wurde nach Hause gefahren. Ganz so wie es meine Oma bei dir handhabte mit nur einem winzigen Unterschied.

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