Challenge Nr. 12

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Februar. Ihr Todestag.

Ich stehe am Grab. Meine zittrigen Hände halten ihren Brief fest - ihren letzten Brief. Die Sonne versucht sich zwischen den dicken Wolkendecken hindurchzudrücken. Es gelingt ihr eher spärlich. Der letzte Schnee schmilzt. Es ist nicht wirklich kalt, nicht im Vergleich zu den letzten Tagen. Ich friere dennoch. Schlucke, als ich zum wiederholten Male die Worte meiner bester Freundin lese. Immer wieder muss ich innehalten. Die Tränen zur Seite blinzeln. Mir ist schlecht. Ich glaube ich habe nach wie vor nicht so richtig realisiert, dass das hier wirklich der letzte Brief sein wird. Der letzte Brief den ich hier auf dieser Erde von meine besten Freundin erhalten werde.

Sie schreibt über Neuanfänge. Es ist absurd, gerade an diesem Tag davon zu lesen, an dem ich nichts lieber tun würde, als für immer in der Vergangenheit zu bleiben und nie wieder aufzutauchen.

Ich vermisse sie.

Ich vermisse ihr Lachen, ich kann mich selbst nach einem Jahr noch so gut daran erinnern. An die fröhlichen Laute, die tief aus ihrem Herzen ihren Mund verlassen. Manchmal die Schweinchengeräusche, die sich dazwischen mischen, wenn sie so sehr die Kotrolle verliert, dass sie sich schließlich, den Bauch haltend auf dem Boden wälzt.

Ich vermisse ihre Ausgelassenheit mehr als wohl jemals zuvor. Ihre spontanen Aktionen, ihre verrückten Ideen, ihr nicht vorhandenes Denken. Einfach machen, leben, ohne Angst und Sorge was jegliche Folgen beträfe.

Ich vermisse unsere Gemeinschaft. Ich vermisse das was wir tag täglich geteilt haben. Jegliche Gefühle, alle Erlebnisse, fröhliche und weniger fröhliche Momente.

Ja, ich vermisse sogar die traurigen Momente. Die Momente einer schlechten Diagnose. Momente der Tränen und des "Nicht mehr weiter Wissens". 

Ich vermisse alles.

Ganz besonders unsere Liebe zu Gott. Unsere gemeinsame Gebete, Gespräche mit und über unseren König. 

Ich vermisse das ermutigen im Glauben, das gegenseitige pushen, Gaben entdecken, in Jesus verbunden zu sein.

Ich vermisse es so sehr.

Ich fühle mich leer und ausgelaugt. In diesem Moment scheinen tatsächlich jegliche Fortschritte der letzten Monate ohne Bedeutung. Es ist als wäre sie erst gestern von uns gegangen.

Mein Blick schweift zurück zu der Tinte auf dem Papier. Meine Hände zittern so sehr dass es mir schwer fällt überhaupt zu lesen. Meine Tränen tropfen auf die sowieso schon krakelige Schrift. ich kann mich nicht konzentrieren. 

Neuanfänge.

In mir wehrt sich alles dagegen.

Ich will nicht neu anfangen. Ich will nicht dass diese Briefe aufhören, ich will nicht an all das denken was vor mir liegt und über was ich einfach absolut keine Macht habe.

Ich will mich festhalten an all dem Vergangenen und gleichzeitig wird mir schmerzlich bewusst, dass heute nicht nur ihr Todestag ist. Heute halte ich nach einem ganze Jahr nicht einfach nur ihren letzten Brief in der Hand, nein heute erscheint tatsächlich auch mein erstes Buch, meine erste CD, meine Poetry Slams gehen auf den Markt.

Meine Gedanken werden ab heute für alle möglichen Menschen zugänglich sein. Es sind keine intimen, persönlichen Texte mehr, die lediglich Betty lesen darf, nein es sind Texte, die sogar vertont wurden, ein ganzes Buch, eine CD für die man Geld ausgeben kann, um damit an meinen Gedanken teilzunehmen und diese Gedanken vielleicht sogar auf sein eigenes Leben anzuwenden.

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