10. Antwort

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Allerliebste Betty,

ich würde lügen, würde ich sagen, die letzten Wochen wären total entspannt und nicht das reinste Chaos gewesen. Es war vielmehr genau das Gegenteil. Im Nachhinein kann ich nicht mehr genau sagen, wie ich die letzten Tage überstanden habe. Nach einer Nacht Krankenhaus haben sie mich entlassen, außer nachts war ich dennoch ständig dort. Milena lag noch eine Woche später auf der Intensivstation. Ihr Herz hatte aufgrund einer Blutvergiftung versagt, weiterhin blieben auch andere Organe gefährdet. Sobald ich nach dem Unterricht ins Krankenhaus kam, hatte ich jedes Mal eine schreckliche Angst, sie nicht mehr lebend vorzufinden. Ich wusste das Milena kämpfte, die Ärzte meinten trotzdem immer und immer wieder, dass sie nach wie vor in Lebensgefahr schweben würde.

Wenn ich gegen 14.00 Uhr ins Krankenhaus kam (die Mittagsschule schwänzte ich die folgenden Wochen konsequent), löste ich Philipp ab. Dieser ging dann nach Hause um etwas zu essen und um nur wenige Zeit später wieder zu kommen. Teilweise saßen wir stundenlang schweigend da. Die Kraft zum Beten fehlte uns häufig, dennoch war es uns unglaublich wichtig. Gegen 16.00 Uhr beteten wir also. Egal wie es uns ging, egal was uns beschäftigte. Wir hatten nie darüber gesprochen. Er begann immer. Teilweise laut, teilweise ohne zu sprechen. Ich wusste dass ihm das Formen von Worten schwer fiel und verunsicherte. Ich bewunderte ihn dafür, dass er trotzdem immer wieder laut mit Gott sprach, dass ihm dieses aussprechen wichtig war. Er konnte seine eigenen Gebete nicht hören, ich hingegen schon und Gott natürlich auch. Wir wechselten uns ab mit beten. Meine Lippen bewegte ich meist immer, dennoch gaben meine Stimmbänder manchmal keine Laute von sich. Es war egal, er konnte mich sowieso nicht verstehen und beobachte lediglich aufmerksam die Bewegungen meiner Lippen. Ich weiß nicht wie viel er davon tatsächlich ablesen konnte.

Manchmal kamen seine Eltern vorbei. Meist nur kurz, den Schmerz in ihren Blicken und die Angst um ihre Tochter war stets deutlich zu spüren. Etwas Leben brachten Uta und Anayo. Stets einmal am Tag. Immer wenn sie von der Arbeit kamen. Manchmal mit ihren Kindern im Schlepptau ein anderes mal ohne. Uta alberte durchgehend mit den Zwillingen herum. Sie waren ein Lichtblick jeden Tag aufs Neue. Sie brachten einfach Freude mit, Leben. Zum Abschluss beteten wir gemeinsam. Alle wurden still. Für die aufgedrehten Kids und die ADHS kranke Uta war das sicherlich nicht immer leicht. Die junge Frau schaffte es trotzdem ohne Probleme, genauso wie damals, als sie mich vor dem Erfrieren rettete. Es war absolut erstaunlich, wie ruhig plötzlich alle wurden, während wir mit Gott Gemeinschaft hatten. Mal beteten wir länger, mal beteten wir kürzer. Anayo und seine Frau beteten jedoch stets für ein Wunder. Tag ein tag aus. Sie glaubten dran. An das Wunder. Sogar die Zwillinge begannen irgendwann mitzubeten. Ebenfalls für ein Wunder. Die gemeinsame Zeit schweißte uns zusammen. Manchmal fühlte ich mich dieser Familie so nahe, wie ich mich mal abgesehen von dir Betty niemandem jemals nahe gefühlt hatte. Mit Philipp war es nicht anders. Von Tag zu Tag, Woche zu Woche wurde unsere Beziehung tiefer und unsere Umarmungen bei der Verabschiedung, nachdem uns Uta und Anayo nach ihrem Besuch nach Hause gefahren hatten, länger, ohne dass wir uns auch nur ein einziges Mal richtig unterhielten. Wir beteten lediglich zusammen und schwiegen uns ansonsten an, aber die Momente waren so besonders, so voller Frieden und Ruhe, dass ich sie durch irgendwelche Gespräche gar nicht unterbrechen wollte und missen, das wollte ich diese gemeinsame Zeit sowieso längst nicht mehr.

Nach einer Woche wurde Milena ins künstliche Koma versetzt, damit sie sich vielleicht so besser erholen konnte. 2 Wochen später kam Philipp nach seiner Mittagspause zum ersten Mal mit seiner Gitarre zurück. Nach einigen Diskussionen, durften wir sie tatsächlich mit auf die Intensivstation nehmen. Bis dato wusste ich nicht, dass er Gitarre spielt. Vor allem nicht so gut, mit so viel Gefühl, er konnte ja nichts hören. Unser Schweigen wurde ab diesem Tag durch weiche, sanfte Klänge untermalt. Manchmal spielte er auch intensiver, lauter. Ich konnte ihm stundenlang zusehen, es schien als sei er eins mit der Musik.

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