Kapitel 4.1 - Blutrote Schatten

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Blutrote Schatten

Mit roten Augen, die aus leeren, fleischlosen Höhlen starrten, hob das Monster seine gewaltigen Klauen und bäumte sich über Tirion auf. Sein Körper bestand aus einer undefinierbaren Substanz, die an verfestigten Schatten erinnerte. Kleine Nebel stiegen von seiner verkrümmten Haut hinauf, bildeten Qualm, der die Kreatur fast unsichtbar erschienen ließ. Nur der Kopf war freigelegt, offenbarte einen animalischen Schädel, der mit messerscharfen Zähnen gespickt war. Sie waren seltsam gewunden und fest ihn dem Gebilde aus Dunkelheit und Knochen verankert, als wäre ihr einziger Nutzen Leben zu löschen und Leid zu bringen.

Aus der Kehle drang ein tiefes, unmenschliches Knurren, das von Bösartigkeit nur so triefte. In den Iriden spiegelte sich die Lust zu töten wider. Das Ungeheuer wollte Blut auf seinen Klauen spüren und pulsierendes Fleisch um seine Zähne schmecken.

Als ich die Szene erblickte, setzte mein Herz einen Schlag aus. Es kam mir so vor, als würde das tödliche Instrument in Zeitlupe auf Tirion hinabstürzen, doch es war schnell und mit einer Kraft gespickt, die Berge hätte spalten können.

In den Augen des Blonden sammelten sich Tränen, denn er wusste, dass dieser Hieb mühelos sein Leben beenden könnte. Der Junge hatte nicht einmal die Möglichkeit zu schreien und ein Ruf nach Hilfe auszusprechen. Sein Schicksal war besiegelt und die Zeiger seiner Lebenszeit brachen, zersprangen wie Glas.

Meine nächste Aktion geschah innerhalb weniger Sekunden. Das Blut der Diavis explodierte in meinen Adern. Im Bruchteil eines Atemzugs stand ich vor dem Monster und blockierte den tödlichen Schlag. Ein mächtiger Ruck durchzuckte meinen Körper und ich spürte deutlich, wie der Boden unter mir Risse bildete, während sich meine Muskeln bis auf das Äußerste anspannten. Der Angriff hatte sich in mich gebohrt, wie es sonst nur ein Trauma zu tun vermochte. Schmerz folgte, der meine Sinne betäubte und meine volle Aufmerksamkeit auf den Kampf lenkte.

»Renn!«, brüllte ich aus voller Kehle, als bereits Instinkte über mich bestimmten. Ein Kampf war unvermeidbar, wenn ich meinen Freund beschützen wollte. Tirion musste fliehen, und zwar jetzt, während ich das Biest beschäftigte.

Im Hintergrund vernahm ich, wie sich der Junge umdrehte und seine Füße nur so über den Waldboden rasten. Es war klar, dass er Angst hatte und sich um mich fürchtete, doch das war irrelevant. Er sollte einfach rennen. Rennen und in Akelicis heil ankommen.

Kaum war ich mir sicher, dass der Junge genug Abstand zu uns hatte, fokussierte ich das Monster. Mit einer Größe von zweieinhalb Metern überragte es mich bei weitem. Es war auch nicht seltsam, dass ich nun seine Beute war. Die Spezies zu der die Kreatur gehörte, nannte man umgangssprachlich auch 'Schatten'. Ein seltenes Wesen, von ungeheurer Macht, die man normalerweise nicht in einem Wald fand. Wahrscheinlich war in seinem Revier die Beute rar geworden, weswegen er seine Jagd hier fortsetzte, sehr zu unserem Leidwesen.

Nachdem der Schatten bemerkt hatte, dass sein Schlag nicht tödlich gewesen war, zog er seine mächtigen Klauen zurück. Seine Augen verengten sich, als er die Zähne fletschte.

Mit einem Sprung nach hinten brachte ich etwas Abstand zwischen mich und das Biest. Noch immer spürte ich die Nachwirkungen seines ersten Schlags, doch obwohl mein Herz derart heftig gegen meine Rippen klopfte, als könnte es jeden Moment ein Loch in meine Brust reißen, umklammerte ich weiterhin den Schwertgriff.

Sofort richtete ich meinen Stand und folgte meinen Instinkten. Meine Augen färbten sich noch einen Rotton dunkler, während ich den Stahl hob und auf den Schatten einstach. Ich sah schon vor meinen Augen, wie die Kreatur ihre Arm verlor, doch mit einer überraschenden Geschwindigkeit bog sich der Schatten zu Seite. Ihre Wirbelsäule knackte grausam, als es sich wieder aufbäumte und nun hinter mir stand. Da meine Füße den Boden noch nicht berührt hatten, war ich gezwungen mich in der Luft umzudrehen. Schützend hob ich die Klinge vor mich, während der gegnerische Angriff einen Luftstoß verursachte.

Erneut trafen die Klauen auf mein Schwert, doch ich hatte aus seinem ersten Angriff gelernt. Während Funken zwischen unseren Waffen glühten und noch mehr Adrenalin durch meine Adern rauschte, missbrauchte ich den Arm des Schattens, um hinter ihn zu gelangen. Ich nutzte die Energie, die bei dem Zusammenprall entstanden war und noch in derselben Sekunde, in der ich landete, wirbelte ich herum. Mein Schwert bohrte sich durch die gekrümmte Haut, durchtrennte die Muskulatur des Monsters, bis sein linker Arm leblos auf den Boden klatschte.

Die Kreatur brüllte schmerzerfüllt auf, bevor sich der geformte Schatten zu seiner vollen Größe aufrichtete. Mit unbändiger Wut, die die Luft gefährlich knistern ließ, wandte er sich mir wieder zu.

Wie bereits zuvor, brachte ich Abstand zwischen uns und versuchte meine Atmung zu beruhigen. Schweiß perlte von meiner Stirn ab und mir war unfassbar heiß, trotzdem würde ich nicht aufgeben. Eine Niederlage konnte ich nicht zulassen.

Gerade wollte ich erneut angreifen, um meinem Gegner keine Chance auf Erholung zu geben, als sich der abgetrennte Arm regte, doch noch bevor ich reagieren konnte, war es bereits zu spät. Ich riss meine Augen auf, als die Klauen sich in meine Seite bohrten und dunkles Blut aus der Wunde rann.

Schmerz durchzog meinen Körper, als würden sich Nadeln durch jede Faser meines Herzens ziehen. Angst pumpte durch meine Arterien und ein spitzer Schrei kam über meine Lippen. Es fühlte sich so an, als würde mein Bauch entflammen.

Zitternd wandte ich mein Kopf auf die Wunde, in der noch immer die Klauen steckten. Die schwarzen Instrumente des Todes zogen sich durch mein Fleisch und immer mehr Blut entkam mir. Meine Kleidung war zerrissen und in dem feurigen Rot getränkt.

Ohne groß darüber nachzudenken, packte ich den Arm der Bestie und zog ihn raus. Die Qual wurde umso größer und mit aller Kraft, die ich besaß, versuchte ich bei Bewusstsein zu bleiben. Mir wurde abwechselnd warm und kalt, während das Gefühl aus meinen Beinen zu schwinden schien. Tränen füllten meine Augen, wie ein Schleier, der sich vor meine Sicht legte. Auch meine Atmung war schwerfällig geworden, denn meine Lungenflügel kamen mir vor, als wären sie mit Gift gefüllt.

Dem Schatten entfloh ein Geräusch, dass stark wie ein gehässiges Lachen klang. Sein abgehackter Arm verband sich wieder mit dem Rest des Körpers und auch der Schnitt schloss sich, als wäre nie etwas passiert.

Stolpernd brachte ich noch mehr Abstand zwischen uns, auch wenn mir bewusst war, dass diese Distanz keine Sicherheit brachte. Die Bestie würde nur zwei lächerliche Schritte benötigen, um unmittelbar vor mir zu stehen.

Meine Gedanken wirbelten wild umher, doch insgeheim wusste ich wohl, dass ich dem Tod gegenüber stand. Es gab kein Entkommen und wenn ich zulange wartete, würde ich an Blutverlust sterben. Hinzukam, dass Schatten die nervige Eigenschaft besaßen, nur zu sterben, wenn man ihren Kern zerstörte.

Mein verzweifelter Versuch einen Ausweg zu finden, wurde von dem Schatten unterbrochen, als er auf mich zu ging. Er hob erneut seine Klauen, während ich nur meine Wunde zupressen und mein Schwert als Schutz benutzen konnte.

Auch für eine Diavi war dieser Gegner zu stark. Eine Tatsache, die ich nun einsehen musste.

Als ein letzter Angriff auf mich herab donnerte, sah ich bereits mein Leben an mir vorbeigehen. All die schrecklichen Ereignisse, aber auch die schönen Momente. Bilder schwammen an mir vorbei. Ich erkannte die Gesichter meiner Eltern und meiner Freunde. Da waren Galcha, Tirion, Avril, Flora und ihre beiden Geschwister.

Bei dem Gedanken sie verlassen zu müssen, begann mein Herz zu bluten. Ich würde sie in dieser grausamen Welt einfach allein lassen. Das konnte ich ihnen nicht antun, sie waren doch meine Familie, meine Freunde. Ich durfte hier nicht sterben, doch anscheinend hatte das Schicksal etwas anderes für mich geplant. Wenigstens konnte ich mein Leben für etwas Gutes geben. Das war alles, was zählte.

Die Klauen fielen auf mich herab. Ich wurde gepackt und in die Luft gehoben. Das Schwert fiel und ich sah meinem Tod unmittelbar in die Augen.

Dann war da eine Stimme: »Pandora!«

Der fünfte GottWhere stories live. Discover now