Kapitel 22.1 - Blitzende Tränen

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Blitzende Tränen

Die folgenden Minuten waren unerträglich. Nicht nur für mich, sondern auch für Cyrian. Ich hatte keine Ahnung, wie ich die angespannte Situation hätte lockern können. Mein Blick wanderte zu Avril. Die Kriegerin hatte sich wieder hingelegt, mit dem Rücken abgewandt. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte sie in den Arm geschlossen, doch ich wusste, dass sie nicht denselben Wunsch hegte. Das Gefühl der Machtlosigkeit ließ meine Seele erstarren. Wir hatten alles getan, was wir tun konnten und trotzdem war es schwer, Leons Schicksal anzunehmen. Wie sollte es nun weitergehen? Schließlich befanden wir uns noch immer auf einer Mission. Cyrian und ich mussten Enja von ihrem Fluch befreien und Avril? Was würde sie jetzt tun? Ursprünglich wollte sie zurück nach Hause gehen, doch nun war Leon nicht mehr an ihrer Seite.

Gerade wollte ich Cyrian nach etwas Wasser bitten, da vernahm ich ein verdächtiges Knacken hinter einigen Bäumen. Sofort stellten sich meine Nackenhaare auf und ich richtete meinen Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Der Zeitgott folgte meinen Blicken, während ein unbekannter Mann aus der Dichte des Waldes trat. Ich schluckte heftig, als ich in einem Anfall von Nervosität nach dem Schwert an meiner Hüfte griff. Doch anstelle von Stahl spürte ich nur Leere. Dann erinnerte ich mich wieder. Cyrian hatte bei unserer Flucht wohl kaum Zeit gehabt, mein Schwert mitzunehmen.

Anstelle von mir stellte sich Cyrian beschützend vor uns. Mit ausgebreiteten Armen versperrte er dem Unbekannten die Sicht. Eine Falte bildete sich auf seiner Stirn, als er die Augenbrauen zusammenzog. Sein unbeschwerter Charakter wich der Ernsthaftigkeit. »Wer bist du?«, forderte Cyrian den Fremden auf. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, wie Avril sich zu uns umdrehte.

»Cyrian. Pass bitte auf«, murmelte ich dem Zeitgott zu. Dabei tastete ich mit vorsichtigen Bewegung unsere Verbindung ab und als ich unsere verbundenen Schicksalsbänder in unserer Hand hielt, schickte ich ein Leuchten an Mut zu ihm. Augenblicklich verschwand Cyrians Angst und bevor ich unsere Verbindung löste, spürte ich einen Funken seiner Dankbarkeit.

Der Fremde hatte sich nicht bewegt, seitdem Cyrian damit begonnen hatte, ihm den Weg zu versperren. Ein dunkler Umhang verdeckte seinen Körper, doch anhand seiner Statur vermutete ich, dass es sich um einen Mann handelte. Auch sein Gesicht lag im Schatten seiner Kapuze.

»Mein Gott«, erwiderte der Unbekannte schließlich und zog die Kapuze von seinem Kopf. Das Gesicht eines Mannes, vielleicht dreißig, kam zum Vorschein. Unordentliches, schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab und eine Narbe erschien unter dem Vollbart. Eine Hakennase verlieh seinem Gesicht etwas Markantes, während braune Augen Cyrian fixierten.

Bevor Cyrian antworten konnte, sank der Fremde auf die Knie. Voller Demut richtete er seinen Kopf in Richtung Boden und zeigte Cyrian seine gesamte Ehrfurcht. Sofort verschwand die Anspannung des Zeitgotts. Eine sanfte Röte erschien auf seinen Wangen und er stolperte einen Schritt zurück.

Aus seiner Reaktion konnte ich schließen, dass Cyrian diesen Mann nicht kannte. Wie sollte er auch? Immerhin war er Jahrtausende im Abyss eingeschlossen gewesen. Mein Blick glitt zurück zu dem Fremden. Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Obwohl der Mann nicht den Anschein erweckte, als wolle er uns angreifen, verschwand meine Anspannung nicht. Atemlos richtete ich mich auf. Dies gelang mir nur, weil ich Halt an einem Baum fand. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich die Wunden zuvor als so überwältigend empfunden hatte.

»Wie bitte?« Cyrians Stimme erhöhte sich, als er sprach. Beinahe klang sie wie ein Quietschen. Seine Beschämung war so gewaltig, dass ich nicht anders konnte, als sein Unwohlsein zu teilen. Warum sprach er ihn mit mein Gott an?

Der fünfte GottWhere stories live. Discover now