Kapitel 20.2 - Der finale Flügelschlag

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Warum war die Welt ein derart grauenvoller Ort? Wir hatten alles getan, um Leon zu retten, nur damit man uns erneut in einen Abgrund aus Trauer und Zweifel stieß. Unsere Mühe durfte nicht vergebens sein. Der Tod durfte Leon nicht an sich nehmen, aber selbst als mein Schrei über den Platz schallte, musste ich diese schmerzhafte Tatsache erkennen. Er würde nicht wiederkommen, egal wie surreal dieser Gedanke schien. Erst fing ich an das Bild, das sich so klar vor meinen Augen abspielte, zu leugnen. Ich wollte mich von den Tatsachen abwenden, aber mit jeder Sekunde wurde mir die Wahrheit auf schmerzhafte Weise mehr und mehr bewusst. Er war tot. Nie wieder würden wir zusammen am Lagerfeuer sitzen. Nie wieder würden wir gemeinsam lachen. Nie wieder würden wir uns über seine Rückkehr freuen können, denn nun wandelte er auf Pfaden, die kein Umdrehen erlaubten.

Avril starrte auf die Leiche ihres Mannes. Sie sah auf die zerfetzten Überreste desjenigen, mit dem sie Liebe und Leidenschaft geteilt hatte und obwohl eine Unmenge an Emotionen hinter ihren Seelenspiegeln zu wüten schienen, schaffte sie es nicht auch nur einer einzigen Ausdruck zu verleihen. Stattdessen schien sie zu fühlen, wie Schwäche ihren Körper befiel. Es war, als würde ihrem Körper Stück für Stück die Kraft entfliehen, während sich erste Tränen in ihren Augenwinkeln ansammelten. In ihnen schimmerten all die Gefühle, die in ihrem Inneren wüteten wie ein brüllender Drache, unter dessen feurigen Atem selbst Knochen zu Staub zermalmt wurden.

Ein Schaudern erfasste ihren Körper, während sie mit zittrigen Schritten auf Leon zuging. Ihr Blick kreuzte sich mit dem der Leiche. Aus seinen Iriden war sämtliche Wärme entflohen. Womöglich erinnerte sie sich daran, wie sie das erste Mal in seine rehbraunen Augen geblickt hatte. Damals auf dem Marktplatz des kleinen Dorfes. Er war der Sohn eines Jägers und sie die Tochter eines Bäckers gewesen. Avril hatte stets gesagt, dass es falsch wäre zu behaupten, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber vom ersten Augenblick an, hatten sie gespürt, dass Harmonie zwischen ihnen herrschte.

Kaum trennten sie nur wenige Zentimeter, gaben ihre Beine nach und sie sank auf die Knie. Mit seinen letzten Kräften hatte Leon sie beschützt. Er wusste, dass er sterben würde und trotzdem hatte er ihr den schützenden Zauber geschenkt, der sie vor dem Tod bewahrt hatte. Für sie war er ein Held. Ihr Held, aber ihre Geschichte besaß kein glückliches Ende. Mit Sicherheit war ihre Sehnsucht, Plätze zu tauschen, größer, als das sie es in Worte fassen könnte. Auch bei ihr schien sich der Gedanke, dass seine Seele längst die irdische Atmosphäre verlassen hatte, in ihren Körper zu bohren wie die Zähne eines Ungeheuers. Vermutlich wünschte sie sich erneut seine starken Arme zu spüren, wie sich um ihren Körper schlangen; erneut dem beruhigenden Klang seiner Stimme zu laschen, während sich ihre Liebe zu einem Band formte, das sie niemals voneinander trennen würde. Aber jener rote Faden des Schicksals war zerschnitten worden und die beiden Hälften verloren sich in der endlosen Dunkelheit.

Avrils Finger zitterten, als sie sich sanft auf Leons Wangen legten. Es störte sie nicht, dass er mit Blut umspült war, so wischte sie zärtlich die rubinrote Flüssigkeit von seinem Gesicht, wobei ihr die schmerzhafte Tatsache abermals bewusst wurde. Ein Schluchzen entfloh ihrer Kehle und ich war mir sicher: Selbst wenn sie mit all ihrer Kraft Widerstand geleistet hätte, so hätte sie der Flut nicht trotzen könnten.

Fest drückte sie Leons zerteilten Oberkörper an sich, während sich ihre Trauer in einen herzzerreißenden Schrei wandelte. Sie wollte ihn wiederhaben. Sie musste ihn wiederhaben, denn ohne ihn an ihrer Seite, wäre sie nur ein gebrochenes Herz, das durch das Gift des Verlustes allmählich aufhörte zu existieren. Aber egal wie oft sie sich die Seele aus dem Leib schrie; egal wie oft ihr Tonklang an ihrem Schmerz zerbrach - Leon war fort. Und er würde nie wieder kehren.

Es dauerte lange, bis ihre Stimme erstmals erstickte und sie in einsamer Trauer versank. Allem Anschein nach hatte sie nicht vor von seiner Seite weichen, bis die letzte Wärme seinem Körper entkommen war; aufgelöst war wie der Nebel, der im Herbst über das Land zog. Nie würde sie seine Seite verlassen, selbst dann nicht, wenn der Tod seine knochigen Finger auf Leons Schulter legte.

Der fünfte GottWhere stories live. Discover now