12.

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• Message To Bears - You Are a Memory •

»Nora Joleen Meyer, Herrgott nochmal, hast du eine Weltreise gemacht? Du bist-« Meine Mutter löst den Blick von mir und sieht mir über die Schulter. Sie kneift die Augen kurz zusammen, bevor sie im nächsten Moment ganz groß werden. »Oh Gott, Atlas! Atlas, bist du das? Es ist so dunkel und... deine Haare! Ich habe dich fast nicht erkannt!«

Sie kommt rausgerannt, läuft an mir vorbei und zieht Atlas in ihre Arme.

»Hey Mom! Ja, alles noch dran. Nein, niemand wollte mich vergewaltigen. Danke der Nachfrage.«

Ich sehe Atlas an, der unbeholfen dasteht und versucht, die Umarmung meiner Mutter zu erwidern. Er wirkt etwas überfordert, doch dann legt er zögernd die Arme um sie, was irrwitzig aussieht, weil meine Mutter mit ihren 1,53 Meter ziemlich klein ist und Atlas sie mit seinen knapp 1,90 Meter überragt. Es sieht aus, als würde meine Mutter einen Riesenteddy erdrücken.

Schließlich lässt sie ihn wieder los. »Ich habe dich so lange nicht gesehen! Was bist du groß geworden! Los, komm rein.«

Atlas wirft mir einen verzweifelten Blick zu, bevor er meine Mutter wieder ansieht und antwortet: »Ich würde wirklich gerne Frau Meyer, aber es ist spät und ich sollte jetzt wohl mal nach Hause gehen.«

»Nach Hause gehen? Jetzt?« Sie schüttelt den Kopf, hakt sich bei ihm ein und zieht ihn ins Haus. »Ich kann dich jetzt nicht einfach nach Hause gehen lassen. Ruf deine Eltern an, du kannst heute bei uns übernachten.«

»Mama ...« Atlas sieht nicht so aus, als würde ihm diese Idee gefallen. Ich bringe es nicht übers Herz, das zu sagen, genauso wenig wie Atlas selbst. Meine Mutter freut sich so sehr, ihn endlich wiederzusehen. Vielleicht sogar mehr als ich.

Ich trotte den beiden hinterher, während Mom Atlas mit Fragen und Geschichten überhäuft. Was hast du die letzten Jahre so getrieben? Wie geht es deinen Eltern? Wie läuft es in der Schule? Irgendwann, zwischen der zwanzigsten und fünfzigsten Frage, schalte ich einfach ab. Ich beobachte Atlas, beobachte, wie er sich durch die Haare fährt, wenn ihm etwas peinlich oder unangenehm ist, wie er an seiner Unterlippe nagt, wenn er sich durch die Neugierde meiner Mutter in die Enge getrieben fühlt oder seine Hände, die ab und zu unruhig am Saum seines T-Shirts spielen.

Nachdem meine Mutter Atlas einen Schlafplatz auf dem Boden neben meinem Bett zurecht gemacht hat, drückt sie ein letztes Mal seine Hand. »Ich freue mich, dich hier wiederzusehen.« Sie schenkt ihm ein Lächeln, wünscht uns schließlich eine gute Nacht und schließt endlich die Tür hinter sich.

Sobald ihre Schritte verblassen, lasse ich mich seufzend auf mein Bett fallen und beobachte Atlas, der sich auf die dünne Matratze auf dem Boden legt. Er verschränkt die Arme hinter seinem Kopf, den Blick an die Decke geheftet und doch ist es so, als würde er durch sie hindurch sehen, weit weit weg.

Ich wüsste gerne, was er gerade sieht, nicht mit den Augen, sondern mit dem Kopf. Vielleicht ist er an einem anderen Ort. Vielleicht einem schöneren Ort, vielleicht aber auch einem Ort, an den er sich gar nicht erinnern möchte. Es ist schwer einen Menschen wie Atlas verstehen zu wollen. Manche Menschen sind wie ein offenes Buch, sie sind leicht einzuschätzen, es ist einfach sie in eine Schublade zu stecken, andere wiederum sind so verschlossen und vielfältig, dass es unmöglich ist, sie zu lesen. Und irgendwie macht ihn gerade das aus. Dieses Mysterium, das Ungewisse, ein tiefer Nebel, der ihn umgibt.

»Woran denkst du gerade?«, flüstere ich leise. Ich weiß nicht, wieso ich das Gefühl habe, leise sprechen zu müssen, aber es ist fast so, als könnte dieser schöne, ruhige Moment jeden Augenblick zusammenbrechen. Ich lege mich auf die Seite und schaue zu ihm herunter.

Er dreht den Kopf, um mich anzusehen und lächelt. »Ich musste gerade an damals denken. An den Tag, als wir zum ersten Mal miteinander geredet haben. Erinnerst du dich?«

Ich muss nicht einmal nachdenken, denn die Bilder tauchen sofort wieder vor meinem inneren Auge auf. »Natürlich, erinnere ich mich daran«, antworte ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Es ist seltsam, aber ich erinnere mich wahrscheinlich an jeden einzelnen Moment, jede Sekunde, die ich mit Atlas verbracht habe, seit ich ihn kenne. Fast, als hätte mein Unterbewusstsein von Anfang an gewusst, was für eine große Rolle dieser Junge einmal in meinem Leben spielen und in meinem Herzen einnehmen würde. Mein Kopf ist voll mit Bildern und Momenten, die ich mit Atlas geteilt habe, wie ein mentales Fotoalbum.

Ich rolle mich wieder auf den Rücken und lege den Arm über meine Augen. »Man sagt, wenn man stirbt, zieht das ganze Leben an einem vorbei. Wenn ich jetzt sterben würde, wären alle Bilder, die sich vor meinem Auge noch einmal wie ein Film abspielen, von dir. Jede schöne und jede schreckliche Erinnerung, du warst immer dabei. Du bist immer ein Teil meines Lebens gewesen, Atlas.«

Er zieht hörbar Luft ein, antwortet aber nicht und vielleicht ist das besser so. Manchmal - vor allem aber nachts - habe ich immer meine fünf Minuten, in denen ich einfach emotional werde. Es ist schrecklich, aber ich kann es einfach nicht abstellen, ich brauche diese Momente.

»Ich denke, jeder Mensch wird aus einem ganz bestimmten Grund auf die Welt gebracht und mein Grund bist du. Ich bin hier, weil du hier bist und du bist hier, weil ich hier bin. Ergibt das irgendeinen Sinn?« Ich stemme mich mit den Ellenbogen ab und setze mich auf, um Atlas wieder ansehen zu können.

Als sich unsere Blicke treffen, zieht sich einer seiner Mundwinkel zu einem Lächeln. »Du bist schon immer so schrecklich kitschig gewesen, Nora. So wie du es darstellst, hört es sich an, als wäre das Leben rosarot und weich, aber so einfach ist das nicht.«

Ich verdrehe die Augen. »Wann hast du dich denn bitte in diesen elenden Pessimisten verwandelt?«

Atlas hat immer zu diesen schrecklich optimistischen Leuten gehört, die in allem das Gute sehen. Früher hat es mich gestört, aber heute wünsche ich mir diesen Atlas zurück.

Ich nehme eine dunkle Strähne und schiebe sie mir zwischen die Oberlippe und Nase, während ich mit verstellter Opa-Stimme rufe: »Das Leben ist ja so grausam und schrecklich geworden! Als ich noch jung war, da war alles viel-«

Bevor ich zu Ende sprechen kann, trifft mich etwas mit voller Wucht im Gesicht. Entsetzt reiße ich den Mund auf und starre Atlas an, der sich aufgesetzt hat und mich angriffslustig ansieht. Ich senke den Blick auf das Kissen, das nun in meinem Schoß liegt und sehe dann wieder in die eisblauen Augen, die belustigt aufblitzen. »Hast du eben mit einem Kissen nach mir geworfen?«

Er zuckt mit den Schultern, aber das verräterische Grinsen in seinem Gesicht bleibt. »Kann gut sein. Vielleicht ist es aber auch jemand der anderen hier Anwesenden gewesen.«

Obwohl es völlig idiotisch ist, weil ich ja weiß, dass nur wir beide hier in meinem Zimmer sitzen, schaue ich mich um, bevor ich Atlas wieder ansehe. »Haha, du Witzbold!« Langsam stehe ich von meinem Bett auf. Ich nehme das Kissen in meine Hände und kneife die Augen zusammen. »Das bekommst du zurück!«

Und mit meinem nächsten Wurf entfache ich eine blutige Kissenschlacht, die keiner von uns gewinnen oder verlieren kann, weil weder ich noch Atlas bereit sind, zu verlieren. Wir sind schon immer schlechte Verlierer gewesen.

Irgendwann lassen wir beide uns schwer atmend auf unsere Matratzen fallen.

»Unentschieden?«, frage ich schweratmend und halte mir den Bauch. So eine Kissenschlacht ist anstrengender, als man vielleicht denken mag.

Einen Augenblick lang ist es ruhig. Nur das schwere Atmen ist zu hören, bis ich ihn schließlich leise keuchen höre. »Unentschieden.«


Behind Blue Eyes [PAUSIERT]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt